Die Kleinstadt Meseritz liegt rund 90 Kilometer
östlich von Frankfurt/Oder. Als Otto geboren wird,
hat die Stadt etwa 4.800 Einwohner, 1939 waren
es rund 11.000. Es gab wenig Industrie, Kleingewerbe
und Handel waren in der Überzahl.
Die Stadt hatte mehrere Schulen, zwei
Krankenhäuser, eine evangelische und eine katholische
Kirche und auch eine Synagoge.
Der Anteil der jüdischen Einwohner sank von
einem Viertel der Bevölkerung Anfang des 19.
Jahrhunderts, insbesondere durch Auswanderung,
bis Anfang der 1930er Jahre auf wenige
Einzelpersonen. Die Mehrheit der Einwohner war
protestantisch, ca. ein Drittel katholisch.
Ursprünglich war Meseritz eine Tuchmacherstadt,
aber nach den Napoleonischen Kriegen
verlor sie an Bedeutung. Zu den verschiedenen
Handwerkerinnungen gehörte auch die
Schneiderinnung, der Gustav Morgenstern beitrat,
wie später auch sein Sohn Otto.
Meseritz war eine kleine Stadt, mit einem Ortskern
und einigen Einkaufsstraßen, Handwerker
und Gewerbetreibende bestimmten das Bild. Nach
Kriegsende 1945 gingen zahlreiche Häuser in der
Innenstadt in Flammen auf, vieles wurde nie
wieder aufgebaut, die Strassenzüge wurden begradigt.
Was man auf alten Postkarten sieht, ist
schwer zu vergleichen mit dem heutigen Ort. Burg
und Schloss aber sind gut erhalten und werden
wieder museal genutzt.
Auch die Kirchen und das Rathaus sind heute in gutem baulichen Zustand, die Synagoge ist renoviert, aber zweckentfremdet. Die ehemals deutschen Friedhöfe, wie auch der jüdische außerhalb der Stadt, sind nicht mehr vorhanden, nach 1945 wurde alles vernichtet.
Nun gibt es aber auf allen Friedhöfen wieder Gedenksteine, die zumindest an diese erinnern. 2018 wurde auf dem evangelischen Friedhof ein Lapidarium errichtet, wo mehr als 100 erhalten gebliebene Grabsteine aufgestellt wurden, eine ausführliche Gedenktafel erinnert an diesen vernichteten Friedhof. Leider ist keiner der Grabsteine der Familien Morgenstern oder Kramm erhalten geblieben.
Meseritz heißt seit 1945 Miedzyrzecz und liegt
in der polnischen Woiwodschaft Lebus.
Aktive Erinnerungsarbeit betreibt seit 1945 bis
heute der Heimatkreis Meseritz e. V., er gibt die
Zeitschrift „Heimatgruss“ heraus, die unterdessen
bei Ausgabe 238 angekommen ist und der ich viele
Hinweise und Erläuterungen zu Meseritz und zur
Geschichte des Ortes und Landkreises Meseritz
entnehmen konnte.
Das Archiv des Meseritzer Heimatkreises befindet sich mittlerweile in den professionellen Händen der Martin-Opitz-Bibliothek in Herne. Wunderbar gestaltet und gepflegt wird das geschichtliche Erbe im Museum der Stadt, das sich im ehemaligen Schloss befindet.
Otto und die Frauen
Otto ist also Ende der 1890er Jahre ein schneidiger junger Mann aus gutem Hause, der mit seinem Aussehen und auch mit seinem Gewerbe Eindruck auf die ledigen Frauen in der Stadt macht.
Olga
Wahrscheinlich im Geschäft des Fotografen Adolf
Fischer lernt er dessen drei Jahre ältere Tochter
Olga kennen. Er geht mit ihr aus und wirbt um
sie, dann hält er um ihre Hand an. Am 17. Juli
1900 geben sie sich auf dem Standesamt in
Meseritz das Jawort, am nächsten Tag folgt die
kirchliche Trauung. Von diesem sicher hübschen
Hochzeitspaar gibt es leider kein Foto.
Marie und Gertrud
Zur gleichen Zeit hat Otto aber auch Marie Kramm,
zwei Jahre älter als er, aus der Winitze kennengelernt.
Sie ist die Tochter des Maurers Gustav Kramm und seiner Frau Juliane geb. Knospe. Die
Vorfahren der Familie Kramm kommen aus Kurzig.
Ohne dass Olga es bemerkt, trifft Otto sich mit
Marie und diese wird schwanger.
Am 16. Dezember 1899 bringt sie im Hause
ihrer Eltern, bei denen sie wohnt, eine Tochter zur
Welt: Louise Gertrud Kramm. Die Taufe findet am
31.12.1899 in der evangelischen Kirche Meseritz
statt. Rufname ist Gertrud.
Scheidung und noch einmal Hochzeit
Wann Olga und der Rest der Familie von diesem
„Fehltritt“ erfahren, wer weiß? Die Ehe mit Olga
hält nicht lange, sie bekommt auch kein Kind von
Otto. Vielleicht ist auch das der Scheidungsgrund,
denn einen Stammhalter wollte Otto auf jeden Fall.
Am 21. April 1904 wird die Ehe offiziell geschieden
und Otto und Marie geben kurz danach beim
Standesamt ihr Aufgebot ab. Der Hochzeitstermin
ist der 25. Juli 1904. Eheurkunde und Gertruds Geburtsurkunde
erhalten den Vermerk, dass Otto die
Vaterschaft anerkennt. Von diesem Tag an heißt
seine Tochter Louise Gertrud Morgenstern.
Niemals wird sie erzählen, daß sie unehelich
zur Welt kam und ihr Geburtsname eigentlich
Kramm war. Eine kirchliche Trauung von Otto und
Marie gab es jedenfalls nicht. Sie wohnen von nun
an im Haus von Ottos Eltern, Gustav und Antonie
Morgenstern, in der Bahnhofstraße 53.
Willi
Endlich wird der ersehnte Stammhalter geboren:
Gustav Willi Otto Morgenstern erblickt am 15. April
1905 das Licht der Welt. Zur großen Bestürzung
aller stirbt der kleine Willi schon einen Monat später,
am 13. Mai 1905.
Seine Schwester Gertrud, damals erst viereinhalb
Jahre alt, beschreibt diesen Verlust 50 Jahre
später sogar in ihrem Lebenslauf unter Familiäres,
wobei sie sich aber um ein Jahr irrt und Geburt
und Tod auf 1904 datiert. Offensichtlich war
es für sie aber ein wichtiges Ereignis. Weitere
Geschwister bekam sie nicht.
Gertrud
Sie wird Ostern 1907 eingeschult und besucht die höhere Mädchenschule (Lyzeum) in Meseritz. Dann wechselt sie ca. 1910 auf das Lyzeum in Bärwalde (heute Mieszkowice in Polen, über 100 km entfernt von Meseritz), sie wohnt dort wahrscheinlich in einem Mädchenpensionat. Verwandte gab es in Bärwalde nicht. Warum sie nicht in Meseritz blieb, ist nie erzählt worden.
Die Großmutter Juliane Kramm stirbt am 28.
März 1907 im Alter von 62 Jahren, der Großvater
Gustav Kramm am 6. September 1911, er wurde
67 Jahre alt. Für Gertrud jedes Mal wieder ein
Schicksalsschlag, sie war bei den beiden in der
Winitze aufgewachsen und liebte sie sehr.
Gertrud besucht in der Bärwalder Kirche von
Ostern bis Ende September 1913 den Konfirmandenunterricht.
Im Oktober 1913 zieht sie zu ihrem
Onkel Theodor Kramm, dem jüngeren Bruder ihrer
Mutter, nach Berlin-Neukölln, Jansastr. 9, und
besucht dort das Lyzeum in der Berliner Straße.
In der Martin-Luther-Kirche nimmt sie bis Februar
1915 am Konfirmandenunterricht teil.
Gertrud wird dann aber am 28. März 1915 in
Meseritz konfirmiert. Dieser schöne Spruch begleitet
sie fortan:
„Der Herr ist mit euch, weil ihr mit
ihm seid, und wenn ihr ihn suchet,
wird er sich von euch finden lassen.“
Danach fährt sie wieder nach Berlin zur Familie Kramm, sie ist gern dort und mit den drei Kindern und Tante Hulda versteht sie sich auch gut. Sie wohnt und lernt bis 1916 in Berlin.
1. August 1914 Der I. Weltkrieg beginnt
Mit Kriegsbeginn wird Otto aus der Reserve
wieder in den aktiven Dienst versetzt, aber er muss
nicht, wie viele andere, an die Front. Er wird die
gesamte Kriegszeit in Posen beim Versorgungsamt
des Heeres als Schneidermeister arbeiten.
Die Einwohnerkartei Posens weist für 1915
mehrere Anschriften zur Untermiete aus, offenbar
wohnte er aber zuerst im Posener Vorort
Dembsen.
Am 4. November 1916 stirbt Ottos Vater Gustav.
Er wird auf dem evangelischen Friedhof, nur wenige
Schritte von der Wohnung entfernt, beerdigt.
Gertrud berichtet 1954 in ihrem Lebenslauf, daß sie vor der Konfirmationsprüfung, 1915 wegen der Kriegsentwicklung die Schule in Berlin ohne Abschluss abbrechen musste.
Sie belegt in Meseritz Kurse für Schreibmaschine,
Stenographie und Buchführung, eine Berufsausbildung
im eigentlichen Sinne kann sie jedoch
nicht beginnen. Sie wird nach Beendigung
der Kurse zusammen mit anderen Schülerinnen
zur Arbeit beim Ersatzbataillon I. R. 37 in Meseritz
verpflichtet und arbeitet bis Kriegsende im
Versorgungsamt. 1918, als Otto vom Kriegsdienst
zurückkehrt, eröffnet er sein Herrenartikelgeschäft
wieder und arbeitet als Herrenmaßschneider.
Gertrud ist seitdem bei ihm angestellt und kümmert
sich um Geschäft und Buchführung.
1919 zieht die Familie um, einige Häuser weiter
in die Bahnhofstraße 46. Ob die Wohnung größer
oder kleiner war, ist nicht bekannt, auf jeden
Fall gab es ein Geschäft mit großem Schaufenster,
eine Schneiderwerkstatt und genug Wohnraum.
Die 1920er Jahre
Otto beschäftigt sich nach dem Krieg verstärkt mit
der Politik, er wird Mitglied der SPD und als 1924
das Reichsbanner, eine paramilitärische Vereinigung
der SPD gegründet wird, tritt er auch dort
ein. Wie stark er sich engagiert hat, ist nicht zu
erkennen, aber in Meseritz ist seine politische Einstellung
allseits bekannt, nach 1933 führt das dann
auch zu Konflikten.
Andererseits hat Otto eine Leidenschaft, die
vielleicht aus der Not geboren war. Er vertieft sich
in die Homöopathielehren Samuel Hahnemanns.
Jedes Wehwehchen
kann er
behandeln, da
muss niemand
aus seiner Familie
zum Arzt.
Globuli, Tropfen und andere Heilmittel kommen zum Einsatz. Diese Vorliebe für homöopathisches Heilen hat sich bei seiner Tochter ebenso festgesetzt wie später bei der Enkeltochter. Auch die Autorin ist mit Globuli groß geworden, einige Mittel verwende ich heute noch und das „Rote Buch“ von Otto halte ich in Ehren.
Wirtschaftlich geht es Otto in diesen Jahren
wie allen Geschäftsleuten, die Inflation frisst die
Ersparnisse auf und die Weltwirtschaftskrise lässt
die Zahl der Kunden und den Umsatz auf ein Minimum
schrumpfen.
Gertrud heiratet
Anfang der 1920er Jahre lernt Gertrud den jüdischen
Getreidekaufmann Martin Rechelmann
kennen. Martin, auch Jahrgang 1899, stammt aus
Schwerin an der Warthe. Sein Vater Hermann ist
zu dieser Zeit schon schwer krank und wird von
Martins Schwester Philippine gepflegt.
Martins Mutter Paula war schon 1916 in der
Heilanstalt Obrawalde verstorben, sein älterer
Bruder Ludwig erlag 1917 mit 19 Jahren seinen
schweren Kriegsverletzungen.
Martin und Gertrud heiraten Weihnachten
1925, er wohnte zeitweise am Topfmarkt in
Meseritz bzw. in Küstrin, zieht aber dann zu
Gertrud mit in den Haushalt von Otto und Marie
Morgenstern.
Offenbar ist die Wohnung Bahnhofstraße 46
groß genug für alle. Am 20. März 1927 bringt
Gertrud im Krankenhaus Obrawalde die Tochter
Ingelid Marie Charlotte zur Welt.
Fortsetzung folgt!