Habent sua fata libelli –
Bücher haben ihr Schicksal


Ein Text von
Leonhard von Kalckreuth (geb. 26.8.1930 – gestorben 14.7.2017), den dieser vermutlich Mitte der 1990er Jahre geschrieben hat. Leonhard v. Kalckreuth war von 2000-2017 1. Vorsitzender des Hkr Meseritz. Der Text wurde 2022 durch Heimatfreund Wojtek Derwich an die Redaktion übermittelt.

Gut und Schloß (eher ein Schlößchen) Samst im Kreis Meseritz waren 1878 durch meinen Ururgroßvater Leonhard v. Kalckreuth seinem Vetter Karl Ernst v.Kalckreuth abgekauft worden. Leonhard v. Kalckreuth gehörten ab dann die Güter Kurzig, Weißensee, Obergörzig und Samst. Kurzig und Weißensee gingen in den 1930er Jahren aus der Familie und das Samster Schlösschen war ab 1928 unbewohnt. Mein Vater verkaufte es 1943 an den Meseritzer Fabrikanten Kauert. Vor der Übernahme durch Herrn Kauert wurde alles dort noch verbliebene Inventar, so auch eine sehr umfangreiche Büchersammlung, die Ernst Ehrenfried vK (1797-1858), der Erbauer des Samster Schlößchens, angelegt hatte, in das von meiner Großmutter bewohnte Schloß Obergörzig verbracht. Wie alles andere Inventar mußte auch die Büchersammlung zurückgelassen werden, als meine Großmutter Obergörzig mit einem der letzten Züge nach Reppen am 26.1.1945 verließ. Als die Rote Armee Obergörzig besetzte, muß die Büchersammlung das Interesse eines literarisch beflissenen Sowjetoffiziers gefunden haben und er nahm zumindest Teile davon mit auf seinen weiteren Weg nach Berlin.

Nach Kriegsende gehörte er zur Sowjetischen Militäradministration Deutschlands (SMAD) und bezog wie alle anderen dort Tätigen ein Haus im „Sowjet-Ghetto“ Berlin-Karlshorst, das fortan für Deutsche gesperrt war. Zugang hatten nur deutsche Handwerker, die sich um elektrische und sanitäre Installationen usw. zu kümmern hatten. Ein solcher, in Berlin-Treptow wohnender Handwerker entdeckte nun in einem der von ihm betreuten Häuser Bücher, die der Bewohner offensichtlich aus deutschen Häusern gestohlen hatte.

Wohl in der Vorstellung, Dritten gestohlene Bücher nun seinerseits dem Dieb entwenden zu dürfen, entfernte er nach und nach eine ganze Anzahl dieser Bücher aus dem Haus des Sowjetoffiziers, bewahrte sie bei sich zu Hause auf und vererbte sie nach seinem Tod an seine Tochter, allerdings mit der Maßgabe, sie solle versuchen, sie dem ursprünglichen Eigentümer bzw. dessen Erben zurückzugeben, sollte die deutsche Teilung je überwunden werden.

Es handelt sich um 14 Bände aus Wieland’s (verlegt 1824-26 bei Göschen, Leipzig) und 15 Bände aus Herder’s (1827-30 bei Cotta, Stuttgart und Tübingen verlegt) Werken über Schöne Literatur, Kunst, Philosophie, Geschichte, Religion, Theologie, Poesie, Politik usw.
Auf der Innenseite tragen alle Bücher das Signet „Bücher-Sammlung des Ernst von Kalckreuth auf Samst Nro…..“.

Bald nach der Wende versuchte die Tochter des Mannes aus Treptow über einen Kontakt mit Kusine Christine – Kozmin in Westberlin zu ermitteln, wer einen berechtigten Anspruch auf die Bücher haben könnte; und 1992 war es soweit: meine Nichte Aglaja, seinerzeit Studentin in Berlin, konnte den Schatz übernehmen, zu meinem Erstaunen, ohne daß etwas dafür verlangt wurde.
Allerdings ließ ich es mir nicht nehmen, die Dame bei einem Berlin-Besuch im Mai 1994 „zum Griechen“ in Treptow einzuladen.
Nach fast 50 Jahren gelangten die Bücher also wieder in den Besitz dessen, dem sie in der alten Heimat sonst durch Vererbung zugefallen wären.


Buchsammlung Ernst v. Kalckreuth
Mehr zur Geschichte der Fam. Kalckreuth – Erinnerungen von L. v. Kalckreuth an Kindheitstage auf dem elterlichen Gut Muchocin bei Birnbaum:

Teil 1 - Eine Kindheit in Polen
Teil 2 - Als Großpolen »Warthegau« hieß

Trauerfeierlichkeiten für Leonhard von Kalckreuth am 13. und 14. Nov. 2017 in Polen