TEIL 2
Wir Luftwaffenhelfer aus
Birnbaum im Wartheland

Aus „LeMO - kollektives Gedächtnis“
Günter Vogel (Langlois Or., USA)

Ich hatte freie Zeit und hörte, daß Panzertruppen Mechnitz wegen des Turmüberfalls der vorigen Nacht besetzt hatten. Plötzlich kam vom Dorfinneren Gewehr- und Maschinenpistolenfeuer als ich auf dem Weg war, „meine“ Witwe zu besuchen. Da war ein Sturmgeschütz auf einem kleinen Platz vor dem Gebäude des Bürgermeisters, wie man mir später erklärte und aus den Kellerfenstern, die flach mit dem Bürgersteig lagen (meine Odertaler Freundin nannte sie „Mechnitzfenster“) kamen Schüsse, die über den Platz fegten.

Da waren zwei Panzersoldaten, die aufs Dach stiegen und eine geballte Ladung (gebündelte Handgranaten) in den Schornstein warfen. Das Resultat war eine Staubwolke aus den Fenstern, aber keine Unterbrechung des Feuers, das zur gleichen Zeit aus verschiedenen Öffnungen kam. Das Sturmgeschütz hatte schon bevor ich ankam ein Loch in die Wand des unteren Stockwerks geschossen, aber ohne Erfolg. Da schlich dann ein Soldat nahe an der Wand entlang und warf eine Handgranate ins untere Fenster. Da war dann Stille. In der Zwischenzeit hatten sich Dutzende zum Zuschauen angesammelt. Man nahm an, daß da keine anderen Russen mehr im Dorf waren – und das war auch so.
Nun versuchten ein paar Soldaten durch das Loch zu kriechen, aber sie paßten nicht hinein, die Gasmaskenbüchsen und Waffen hinderten sie daran. Bevor ich mir bewußt war, was ich tat, kniete ich mich nieder und schlüpfte durch das Loch in das Haus. Alles war drinnen still und ich ging die halb zerstörte Holztreppe hinab in den Keller. Ich war verwundert, wie der große Kellerraum eingerichtet war.
An die Wände waren dicke Federbetten genagelt, Kissen und Decken. Bretter waren gelegt, auf denen die Personen hin und her von Fenster zu Fenster rennen konnten; aber keine Spur von ihnen. Alles war weiß verstaubt. Als ich mich umdrehte, um wieder hochzugehen, befahl jemand: „Raus da, raus da!“ Ich stolperte über etwas Weiches, schaute hinunter und stand auf der Brust eines Toten. Ich war so entgeistert, daß ich mit einem Schrei heruntersprang, so daß mich die Soldaten oben aus dem Loch zerren mußten, denn ich war fast paralysiert vom Schrecken.
Sie trugen mich hinter ihren Panzer und schauten, ob ich verwundet war und dann berichtete ich von meinem schrecklichen Abenteuer. Ich blutete am Kopf, verursacht durch einen Zacken an der Mauer oder durch Nägel in der Treppe. Später schämte ich mich für mein Heulen, aber keiner warf mir etwas vor. Meine Kameraden erfuhren nichts davon.

Übrigens, es war ein Erlebnis, gegen das ich schon damals so eingeimpft war mit Kriegsmüdigkeit, daß ich davon rede, als wäre es jemand anderem passiert.
Also der Abzug: mitten im Feuergefecht mit den Russen, als schon ein goßer Teil von Mechnitz in Brand stand, erinnere ich mich an eine Figur, die vor der brennenden Scheune hin und her rannte, die wir womöglich mit unserer 8,8 in Brand gesetzt hatten.
Wir sahen keine Sowjetpanzer, nur Infanteristen. Wir schossen am Schluß auf die Russen mit „Üb-Rot“ (Übungsgranaten). Diese Granaten verschossen wir, weil die anderen Granaten verbraucht waren. Einige der Ausdrücke sind mir noch im Gehirn, wie Vau-Null, die Anfangsgeschwindigkeit einer Granate, ich nehme an, das Wort leitet sich ab von Velozität (Schnelligkeit).

Der Entlassungsbefehl kam wohl vom Batteriechef. Der Grund für unsre „Rettung“ war meiner Ansicht nach der, daß man uns aufheben wollte für die zukünftige Siegesmacht des Reiches und nicht weil Stalin Schlimmes vor hatte für uns Jungens. Ein Tiger-Panzer wurde geschickt, denn wir waren fast umzingelt und der Tiger stand dann in der Mitte der Stellung mit laufendem Motor, als ich mit Hilfe meiner Kameraden hochkletterte. Wir hielten uns an allem Möglichen fest und duckten uns wegen des MG-Feuers der Russen vom Dorfrand.
Dann kamen wir unter Feuer vom langsamen tak-tak der russischen wassergekühlten MGs aus dem Dorf. Die Leuchtspuren zeigten uns, daß wir nur für einige hundert Meter in Gefahr waren, denn wir fuhren eine kurze Strecke in Richtung Mechnitz, dann in Richtung Steinbirn (Kamionka). Dieser Ort war wie eine Oase. Die genaue Lage der Mechnitzer Batterie ist für alle Zeit markiert mit dem Betonsockel der „Würzburg-Riesen“ und dadurch auch meine Stellung im Graben nördlich davon.

So sehe ich eine Reihe Bäume – auf „Google Earth“ vor mir auf dem Bildschirm in Gedanken – wo ich mit der Helga, einer der hübschen Luftwaffenhelferinnen vom „Würzburg-Riesen“ spazieren ging, zum Spaß oder Ärger meiner Kameraden. Sie nahm später meine letzte Post mit nach Hause, denn wir waren schon so abgeschnitten, allerdings nicht umzingelt, daß Post ein Luxus war.
Die Russen griffen uns an. Ich schoß wild mit dem MG, denn die Angreifer kamen in Schneehemden und wir konnten sie nur vermuten. Zwischen den Russen und den Panzergrenadieren, die uns unterstützten, wurden alle Häuser eins nach dem anderen im Feuer vernichtet. Der Tiger machte mehrere Fahrten nach Steinbirn, bis alle Luftwaffenhelfer aus der Stellung in der Etappe waren. Die Flakhelferinnen waren schon einige Wochen früher mit Lastern abgeholt worden.
Der Panzer brachte mich nach Steinbirn, das war die nächste freie Ortschaft. Der Panzerkommandant sagte uns, wir sollten in die Küche des einen Bauernhauses gehen, dort könnten wir schlafen. Von Ferne hörte man den Trubel der Schießerei. Ich stellte meine Stiefel zum Trocknen auf einen fast glühenden Ofen, mit den Hacken auf der Platte. Von dort rutschten sie aber ab und am Morgen waren die Sohlen weggebrannt.

Wir hatten keinen Spieß und ich trat am nächsten Morgen zum Appell an in Socken und im Schnee. Gegenüber war ein Waren- oder Uniformlager, das Tor weit offen. Ich erinnere mich, wie wir über unsere Schultern guckten, bevor wir reingingen.

Und da war alles, was das Herz begehrte: neue Uniformen und für mich – Stiefel. Ich ergriff eine Hose und dann rannten wir zu einer Kreuzung, wo wir auf einen Laster warten sollten, der uns nach Prag bringen würde. Die Hose war zu klein, paßte aber meiner Schwester. Sie trug diese, schwarz gefärbt, als wir Weihnachten 1947 über Hamburg nach Amsterdam fuhren, aber das ist ein anderes Abenteuer.
Kein Laster kam, sondern ein langer Zug von Luftwaffenhelfern, dem wir uns anschlossen. Des Nachts schliefen wir in Scheunen, zum Essen nahmen wir, was wir in den schon verlassenen Bauernhöfen finden konnten.

Auf dem langen Marsch kamen wir in Brüx (Most CZ) an. Dort wurde ich als Luftwaffenhelfer entlassen. Ich gab dem Offizier in Brüx an, daß meine Fahrkarte nach Schwaneberg ausgestellt werden sollte. Ich weiß nur, daß ich als Luftwaffenhelfer einmal Post von meiner Mutter (geliebte Stiefmutter) bekam, daß sie auf einem Rittergut Schwaneberg (Eigentümer: Kühne) bei Prenzlau aufgenommen wurde, nachdem unser Haus in Berlin das zweite mal von Bomben getroffen, dieses Mal aber vollständig zerstört worden war.
Nach 3 Wochen kam ich dort an, aber Alle waren geflohen. Der einzige, der geblieben war, war der Dorfgendarm. Er sagte, daß die Damen in zwei Kutschen des Gutes nach Westen gefahren seien. Ein Milchzug brachte mich am nächsten Tag nach Prenzlau, wo ich einen der letzten Züge nach Hamburg nahm (natürlich wußte ich nicht, was da im Osten los war). Ich – ohne Fahrkarte! Als der bewaffnete Feldgendarm (genannt „Kettenhund“) nach meinen Papieren verlangte, wollte er wissen, wo Brüx ist und ich sagte ihm: „An der Oder.“ „Und wohin fährst Du?“ „Nach Schwaneberg, bei Hamburg.“ das war eine gut gelungene Lüge, aber die Fahrkarte erklärte nicht, daß Brüx in der alten Tschechei war. Und daß Schwaneberg bei Prenzlau lag, konnte der Mann nicht wissen.

In Pasewalk wurde der Zug von Tieffliegern angegriffen. Wir lagen alle unter den Wagen, zwischen den Schienen, bis sie weg flogen. Aber ein Schuß ging durch meinen großen Lederkoffer, den ich mit Kirschkonserven aus der Küche des Gutes für meine Familie vollgeladen hatte – wenn ich sie finden sollte.Was für ein Glück, das Rote Kreuz in Hamburg hatte alle Flüchtlingstransporte von Ostpreußen dokumentiert und unter „V“ waren die Meinen in Pattensen bei Winsen (Luhe) angegeben. Dort kam ich am nächsten Morgen an, meine Familie hatte mich schon für tot aufgegeben oder wenigstens für hoffnungslos verloren gehalten. Eigentlich war es ein Wunder, in dieser Riesenunordnung und dem Chaos überhaupt jemanden zu finden.

Wir lebten in einem getünchten Hühnerstall eines Bauernhauses. Die Bauern hatten einen großen Hass auf die Flüchtlinge, die ihnen vom Ortsgruppenleiter der Partei, der auch mir beim Auffinden der Adresse meiner Familie behilflich war, aufgezwungen worden waren. Und dann kam der Krieg näher. Heute weiß ich, daß Pattensen eines der wenigen Dörfer war, die sich als offen erklärt hatten und keinen Widerstand leisteten, als die Briten einmarschierten. Dafür gab es bei uns keine Opfer, keine angezündeten Häuser. Anders war es leider in Winsen, wo die Familie meiner Freundin aus Odertal angekommen war.

Meine aus dem Staat Tennessee stammende Frau und ich waren später auch in Mechnitz. Man hat die Kirche nicht mehr so schön wieder erbaut, wie sie damals war. Die Ecksäulen und das Holzwerk waren verschwunden, all das wurde eingemauert und der Turm gelb gestrichen. Der ursprüngliche Bau hatte einen Glockenturm mit einer offenen Plattform und eine viel höhere Spitze.