Russische Soldaten in Birnbaum –
so wie sie vielleicht nur Wenige erlebt haben

Waltraud Stieler

Eigentlich wohnten wir in Posen, wo meine Eltern – beide in Birnbaum geboren und aufgewachsen – seit ihrer Heirat lebten.
Um Fliegeralarm und Bomben zu entgehen, hielt sich unsere Mutter mit uns Kindern seit dem Herbst 1944 bei unserer Großmutter und Tante in Birnbaum auf. Hier erlebten wir im Januar 1945 den Einmarsch der russischen Armee unmittelbar im Haus der Oma. Plötzlich standen mehrere russische Soldaten vor der Tür und befahlen uns, sofort alle Räume zu verlassen und uns in einen im 1. Stockwerk befindlichen Raum zurückzuziehen. Im zugewiesenen Raum, unserem Besucherzimmer, standen 2 Ehebetten nebeneinander, davor 1 Kinderbett, in einer Ecke längs der Wand 1 Einzelbett und im Erker ein Sofa. Eine kleine Küche war auch vorhanden.
Am späten Abend, unser Bruder schlief in seinem Kinderbett, meine Schwester, 5 Jahre alt und ich, im Januar 4 Jahre alt geworden, lagen noch wach in den Ehebetten, klopfte es an der Tür. Erschrocken öffnete eine der Frauen die Tür. Drei der Soldaten aus den besetzten Räumen verkündeten, sie würden auch bei uns schlafen. Das Entsetzen der Mutti, Oma und Tante war groß; freundlich aber meinten die Drei, vor ihnen bräuchten wir keine Angst zu haben, nur vor denen, die nach ihnen kämen – und traten ein. Unsere verängstigte Mutter wies uns Mädchen an, aufzustehen, bekam aber postwendend den Hinweis, alles so zu belassen wie es sei.
Unsere Russen, drei Lehrer aus Leningrad, schliefen von nun an bis zum 10. März mit uns im gleichen Raum und zwar in dem beschriebenen Ehebett, nicht längs sondern quer, in voller Uniform und stellten sich jeden Abend jeweils einen Stuhl unter die Beine, damit diese nicht hinunterhingen. Es wurden für uns Alle unbeschwerte, ruhige Nächte. Wir hatten offensichtlich drei Beschützer bei uns.

Von nun an mußten unsere Mutter und unsere Tante jeden Morgen zum Schützengräben-Schippen für die Polen aufbrechen während unsere Oma, 62 Jahre alt, bei uns Kindern bleiben durfte. Täglich kamen unsere Drei pünktlich zum Mittagessen, das die Oma aus den von ihnen gebrachten Zutaten zubereitete. Wir saßen dann zusammen am Mittagstisch.
Von Anfang an mußte ich immer bei einem der Drei auf dem Schoß sitzen und mit ihm vom gleichen Teller essen, was mir nicht schwer fiel – er war ja sehr nett zu mir – bis zu dem Tag, an dem es auch einmal Fleisch gab, das die Oma nach Anweisung schon in der Küche – ich stand dabei – in Würfel von ca. 5 x 5 cm geschnitten hatte. Der Soldat spießte seinen Fleischwürfel mit der Gabel auf, biß ab und nun sollte ich abbeißen. Das fand ich dann doch etwas eklig und weigerte mich. So entstand eine kleine Diskussion zwischen uns beiden. Erst als er etwas energisch wurde entschloß ich mich doch dazu, abzubeißen und zwar so lange, wie man eine noch unberührte Stelle erkennen konnte. Jetzt sagte ich, ich wolle nicht mehr und er war einverstanden.

Gern tranken unsere Drei auch mal Wodka und die leeren Flaschen wurden, bis sich ca. 4-5 angesammelt hatten, auf der Frisierkommode abgestellt, d. h. immer bedeckte noch ein guter Schluck den Boden.
Eines Vormittags, als wir Kinder allein waren, beschloß mein Bruder, den Wodka zu kosten. Meine Schwester und ich versuchten ihn daran zu hindern, mit dem Erfolg, daß er sich diesen eben ganz spontan in die Nase goß. Postwendend kam der Wodka wieder aus dem Mund heraus, unser Bruder rang nach Luft, hustete fürchterlich, die Oma kam hinzu, verzweifelt versuchten wir ihm zu helfen. Allmählich ging es ihm wieder besser – sprechen konnte er 3 Tage nicht.
Wie an jedem Tag erschienen unsere Soldaten pünktlich zum Mittagessen. Nachdem wir schon eine Weile zusammengesessen hatten, fragte einer von ihnen unsere Oma, was denn heut mit dem Jungen los wäre, er würde doch sonst immer so viel plappern und heut wäre er ganz still. Die Oma berichtete was geschehen war. Ab diesem Tag wurden zwar weiterhin die Wodkaflaschen auf der Frisierkommode abgestellt, allerdings war nie wieder ein Tropfen darin.
Am 9. März wurde unser Bruder 3 Jahre alt; die Oma hatte einen Kuchen gebacken, von dem wir am Nachmittag aßen. Mitten in der Nacht vom 9. zum 10. März, unserer letzten Nacht in Birnbaum, rief mein Bruder plötzlich: „Mutti, Mutti, ich will Kuchen!“ Vergebens versuchte die Mutti ihn zu beruhigen, hatte sie doch Bange, unsere Drei würden sich in ihrer Nachtruhe gestört fühlen. Immer lauter hallte es durch die Nacht: „Mutti, ich will Kuchen!“ Da ertönte aus dem Bett der Soldaten eine erlösende Stimme: „Frau, stehen Sie doch auf, geben Sie dem Kind ein Stück Kuchen!“. So bekam mein Bruder seinen Kuchen und die Nachtruhe war für uns Alle augenblicklich wiederhergestellt.

Wie immer waren unsere Mutter und Tante am frühen Morgen des 10. März 1945 zum Schützengräben- Schippen aufgebrochen. Es muß gegen 10 Uhr gewesen sein, als es vom Ackerplatz her durch ein Megaphon hallte:
Alle Deutschen haben sich innerhalb einer Viertelstunde auf dem Ackerplatz einzufinden!

Fassungslos stand unsere Oma da, aber da kam auch schon 3fache Hilfe herbeigeeilt, mit Kartons und Schnur. Unsere Russen standen mitten im Zimmer und riefen: „Frau, warme Sachen für die Kinder, Frau, warme Sachen für die Kinder!“. Die Oma schleppte nun schleunigst Kleidung heran, unsere Helfer packten Kartons in Windeseile, verschnürten diese in wunderbarer Sternenform, bepackten uns einen Handwagen, die Oma griff noch nach dem Sportwagen.

Hier trennten sich unsere Wege für immer. Ob unsere drei Beschützer wohl gesund ihre Heimat wiedergesehen haben?
Beim Verlassen des Hauses kamen unsere Mutter und Tante herbeigeeilt. Wir gingen alle gemeinsam zum Sammelplatz, der schon voller Menschen war. Hier verkündeten die Polen der versammelten Menge: Ihr könnt hingehen wohin Ihr wollt – Hauptsache, Ihr kommt über die Warthebrücke!

Man hatte die Wahl, zu Fuß loszugehen oder sich für teures Geld mit einem Heuwagen fortfahren zu lassen. Meine Sippe entschied sich aus Sicherheitsgründen, lieber zu laufen.


Jagd in Meseritz

Anmerkung der Redaktion: Es muß sich hier um Angehörige (Offiziere) des Stabes von Marschall Schukow gehandelt haben, der im Landratsamt Quartier genommen hatte.