Auf den Spuren der Vertreibung 1945
Bernhard Dopichaj


Was Heimatfreund Bernhard Dopichaj aus Arolsen ursprünglich als Leserbrief konzipierte, ist der HGr-Redaktion wichtig und interessant genug, um mit seinem Einverständnis den Text ungekürzt und mit allen Fotos als eigenständigen Beitrag im HGr zu veröffentlichen.


Seit einiger Zeit beschäftige ich mich mit meinen Vorfahren, die aus dem Dorf Jablonke (Alt Jablonke / Jablonka stara) bei Tirschtiegel stammen; dort bin ich im Jahre 1941 geboren. Ich konnte bei meinen Nachforschungen Vieles herausfinden, aber nur wenig über die Zeit vom 29.6.1945, dem Tag der Vertreibung aus meinem Heimatdorf, bis zur Ankunft in Booßen, heute Stadtteil von Frankfurt/Oder.
Daher habe ich den Artikel Die Vertreibung aus unserer Heimat“ von Käthe und Manfred Koschützke (HEIMATGRUSS Nr. 243) mit großem Interesse gelesen. In ihm werden der Weg der Vertriebenen aus unserer Heimat sowie Zeitangaben und weitere Umstände verdeutlicht.

Die Vertreibung meiner Familie aus Jablonke begann 4 Tage nach der Vertreibung der Familie Koschützke. Der Weg der Jablonker führte über Tirschtiegel (die erste Nacht verbrachten sie auf Schloss Tirschtiegel), dann über Meseritz und wahrscheinlich Pieske.
An diesem Ort war die Familie Koschützke drei Tage vorher. Ich habe den von Koschützke beschriebenen Weg auf Karten nachvollzogen. Besonders nützlich war die Karte „Neumark mittlerer Teil“ vom Blochplan, denn in dieser Karte werden alle Ortschaften in Deutsch und Polnisch genannt.
Dabei sind mir zwei Schreibfehler auf der Seite 33 aufgefallen. Das Dorf Grabow (1. Spalte Mitte) muss Grochow / polnisch Grochowo, das Dorf Görlitz (2. Spalte, oben) muss Göritz / polnisch Gorzyca heißen. Der Übergang der Vertriebenen aus unserer Heimat wird benannt: „nördlich von Görlitz (Anm.: Göritz) über eine künstlich gelegte Brücke über die Oder“. Die Karte zeigt, dass von Göritz und von Reitwein zwei ausgebaute Straßen auf die Oder zuführen. Die Pontonbrücke bzw. Holzbrücke hatte die sowjetische Armee geschaffen; in einer Internetquelle ist von zwei Brücken die Rede. An dieser Stelle ist die Oder relativ schmal, 100 bis 200 Meter.

Karte „Neumark mittlerer Teil“ –
Blochplan




Vor dem Krieg gab es an dieser Stelle eine Fährverbindung (Gierfähre, Antrieb durch die Strömung des Flusses) über die Oder, die im Winter 1944 eingestellt wurde. Die noch heute bestehenden Straßen führten zu den Anlegestellen der Flussfähre.
Diese Stelle an der Oder hat auch historisch eine gewisse Bedeutung. Im Internet findet sich unter dem Titel „Gierfähre (Reitwein)“ Folgendes: „1899 wurde an dieser Stelle in 3 Wochen eine 550 m lange hölzerne Brücke zu Übungszwecken durch kaiserliche Pioniereinheiten über die Oder gebaut. 1759 überschritt der preußische König Friedrich II. hier über zwei kurzfristig errichtete Brücken mit 40.000 Mann die Oder, um die Schlacht bei Kunersdorf zu bestreiten.“

Ich habe diese Stelle an der Oder am 19.4.2023 aufgesucht und Fotos geschossen. Die Straße, die die Heimatvertriebenen 1945 nehmen mussten, führt von einem Deich hinunter an die Oder. Auf der deutschen Seite sieht man einen PKW genau an der Stelle, wo ich an diesem Tag zwei Stunden vorher mein Auto abgestellt hatte. Wegen der Schweinepest gibt es zur Zeit Absperrungen, das Gatter ließ sich aber leicht öffnen.


Oder bei Göritz


Das zweite Foto zeigt den Blick zurück, ins heutige Polen. Der Weg, der in eine geteerte Straße übergeht, ist auf der Höhe des Wasserspiegels der Oder. Da diese Stelle an der Oder nicht leicht zu finden ist, kann der Wachtturm auf der polnischen Seite (links im Foto) zur Orientierung genutzt werden


Oder bei Göritz


Durch Hinweisschilder ausgewiesen, kann auch die „Diplomatentreppe“, 3 bis 4 Kilometer südlich, zur Orientierung genutzt werden. Sie wurde 1984/85 aus Anlass des 40. Jahrestages an der Stelle errichtet, an der am 2. Februar 1945 die Rote Armee die (wahrscheinlich zugefrorene) Oder überquerte. Die Treppe sollte den angereisten 40 Botschaftern in der DDR das Erklimmen des Oderdeiches und den Blick über die Oder erleichtern.

Die Tagebuchaufzeichnungen der Familie Koschützke enthalten weitere wichtige Detail- Informationen, wodurch eine genauere Vorstellung von der „wilden“ Vertreibung im Juni und Juli 1945, die eine „ethnische Säuberung“ war, vermittelt wird. Darüber würde ich gern mehr erfahren.

Dieses hässliche und menschenverachtende Wort (als wenn Menschen Schmutz wären) wurde 1992 in die Liste der „Unwörter“ des 20. Jahrhunderts aufgenommen. Auslöser dieses Vorgangs waren aber nicht Erinnerungen an die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, sondern Vertreibungen in Bosnien-Herzegowina und im afrikanischen Staat Ruanda. Die deutsche Politik und die deutschen Medien erweisen sich -so mein Eindruck- bis heute als mitleidlos bei deutschen Opfern einer ethnischen Säuberung, zeigten aber und zeigen große Empörung bei ähnlichen Verbrechen an anderen Völkern. Aber das ist ein anderes Kapitel.



Anmerkungen der Redaktion:
Die von B. Dopichaj erwähnten falschen Ortsbezeichnungen (Grochow/Grabow und Göritz/Görlitz) bedauern wir. Sie wurden jedoch bereits in der uns zugesandten Textfassung so verwendet. In dem Beitrag heißt es: „Der Weg der Jablonker führte über Tirschtiegel (die erste Nacht verbrachten sie auf Schloss Tirschtiegel)“. Falls es noch Zeitzeugen der Jablonker Vertreibung gibt: Ich würde sehr gern mehr über diese Nacht und den damaligen Zustand von Schloss Tirschtiegel erfahren. Kontaktieren sie bitte die Redaktion.