Ein Meseritzer Junge erzählt
von Walter Kintzel, 2014 (Text u. Fotos)


An Laura und für alle meine Enkel und Urenkel!

Am 3. August 2007 unterhielten wir uns beide, liebe Laura, über die Geschichte Deiner Vorfahren. Du sagtest mir damals, dass Du als Schriftstellerin die „KINTZEL-SAGA“ schreiben willst. Ich stelle Dir das Material und die Fakten zusammen, soweit ich sie zur Verfügung habe.
Für Dich bleibt aber noch viel, aber interessante Arbeit.Vielleicht kannst Du noch den Stammbaum der Familie Kintzel vor 1790 ergründen. Wichtig ist für Euch, viele Fragen an Eure Eltern und Großeltern zu stellen, damit das, was sie noch wissen, nicht verloren geht. Eure Enkel und Urenkel werden Euch dafür dereinst sehr dankbar sein!
Da ich die Familienchronik ursprünglich für meine Person erarbeitet hatte, stammt auch das meiste Material aus meinem Lebenslauf. Das war auch maßgeblich für die Gliederung. Die Originale - Urkunden, Fotos, Zeugnisse – sind neben dem Text der einzelnen Kapitel in Aktenordnern (s. Stempeldruck) enthalten.



Ein Meseritzer Junge erzählt – Walter KintzelWas ein Mensch in seiner Kindheit
aus der Luft der Zeit
in sein Blut genommen,
bleibt unausscheidbar.


Stefan Zweig

Wie wahr sind die Erinnerungen eines Schuljungen? Lang lang ist’s her, doch tauchen immer wieder Kindheitserinnerungen auf. Es sind die Erinnerungen, die bleiben, stark davon abhängig, wie stark oder intensiv wir ein Erlebnis oder eine Situation empfunden haben. Kein Mensch kann sich an alles erinnern, was in seiner Kindheit geschehen ist, oft bleiben nur einzelne Vorgänge oder Bilder im Gedächtnis. Dennoch: „Es gibt kein Alter, in dem alles so irrsinnig intensiv erlebt wird wie in der Kindheit“ (Astrid Lindgren).
Es ist sicherlich die kindliche Prägephase, die bei jedem Menschen einen individuellen Erinnerungsschatz entstehen lässt, und er selbst kann oft nicht sagen, warum er sich ausgerechnet an dieses oder jenes Ereignis erinnert. Die Kinder von damals, von denen einige ein ausgeprägtes Erinnerungsvermögen besitzen, sind die letzten Zeitzeugen für die damalige Zeit. „Die Kriegskinder haben jetzt, am Ende ihres Lebens, das große Bedürfnis zu reden“ (WINKELMÜLLER 2011).
Ich gebe hier einige Gedanken der Autorin ANETTE WINKELMÜLLER (Titel: Im Krieg war ich noch klein.) wieder. Es war bis in die 1960er Jahre hinein eine vorherrschende Auffassung, dass vor allem kleine Kinder vieles an Bedrohungen und Leid um sich herum nicht spüren. Inzwischen liegen Untersuchungen vor, die belegen, dass Kinder das Leid ihrer Eltern miterleben und mittragen, oft unbewusst und noch im Erwachsenenalter unbewältigt.

Begleitet von einer Psychotherapeutin, haben Menschen der Geburtsjahrgänge 1930 bis 1947 sich in einer Schreibwerkstatt auf den Weg in ihre kindliche Vergangenheit gemacht. In unterschiedlich langen Texten erzählen sie aus der Zeit, in der sie als Kinder den Zweiten Weltkrieg und die frühe Nachkriegszeit erlebt haben. Ein lebendiges Stück Zeitgeschichte, das ohne nostalgische Verklärung in seiner Unmittelbarkeit berührt, erschüttert und zum Nachdenken anregt.
„Wenn nicht erzählt wird, wie es wirklich war, frei von Ängsten, Vertuschungen und Ressentiments, dann wird die Weitergabe verzerrter Ansichten und Traditionen in den Generationen fixiert.“ (A. WINKELMÜLLER)

Traurigerweise sind viele Zeitzeugen der älteren Generation aus der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der ehemaligen DDR, die bei Kriegsende bereits im späteren Erwachsenalter waren, ins Grab gesunken, ohne über ihre Erinnerungen zu sprechen oder gar etwas aufzuschreiben, weil sie daran gehindert wurden.
Über die damit im Zusammenhang stehenden Probleme in Mecklenburg hat MIRJAM SEILS (Titel: Die fremde Hälfte, 2012) ein Buch geschrieben, dem ich einige grundsätzliche Fakten entnommen habe.
Der totalitäre Machtanspruch der Besatzungsmacht und die sich herausbildende SED-Herrschaft prägte den Alltag der Vertriebenen. Über Jahrzehnte war in der DDR eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Schicksal der Flüchtlinge und Vertriebenen nicht möglich, allein schon die Bezeichnung „Flüchtlinge“ war verboten. Die Mecklenburgische Unterabteilung der Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler bei der Landesverwaltung Mecklenburg-Vorpommern ordnete bereits am 16. 10. 1945 an, „daß die Bezeichnung ’Flüchtlinge‘ in Zukunft fortzufallen hat und dafür die Bezeichnung ’Umsiedler‘ tritt.“ Kulturelle Selbstbewahrung oder Interessenvertretung wurden vom SED-Staat kriminalisiert.
Traditionspflege, Treffen von Schicksalsgenossen und öffentliches Singen von Heimatliedern war verboten. Ein Schreiben der Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler vom März 1948 an die Abt. Rundfunk der Zentralverwaltung für Volksbildung beinhaltete, „dass das Spielen von Liedern, die in irgendwelcher Form an die ehemaligen Ostgebiete erinnern, zu unterlassen sind.“
Das Beziehen oder der Besitz von Heimatbriefen waren strafbar, es führte zu Festnahmen mit Gefängnis- und sogar Zuchthausstrafen. Grundlage dafür war der Artikel 6 der DDR-Verfassung über „Boykott- und Kriegshetze“. Bereits das Wort „Vertreibung“ wurde als hetzerisch bewertet.
Schon durch das Lesen von Heimatblättern gerieten die Vertriebenen in das Blickfeld des Geheimdienstes.

1961 wurde eine Stasi-Direktive erlassen, die festlegte, dass alle Vertriebenen, die bisher an „Revanchistentreffen“ in Westberlin und in Westdeutschland teilnahmen oder in brieflicher Verbindung mit ehemaligen Heimatfreunden oder Landsmannschaften stehen bzw. Empfänger von Heimatbriefen sind, in einer Kerblochdatei zu erfassen sind. Selbst das Erzählen eigener Erlebnisse im privaten Kreis konnte zum Verhängnis werden.Psychologisch gesehen macht die Erinnerung an unsere Vergangenheit einen großen Teil unserer Persönlichkeit aus. Das Abspeichern von guten und schlechten Erlebnissen, positiven und negativen Gefühlen macht uns einzigartig, erklärt Charakterzüge und Empfindlichkeiten. Das Beste, was uns passieren kann, sind angenehme und schöne Kindheitserinnerungen.

Ein Meseritzer Junge erzählt – Walter KintzelManche Forscher vergleichen das Abrufen schöner Kindheitserinnerungen mit dem Wohlbefinden, das wir beim Essen von Schokolade oder beim Hören schöner Musik empfinden. Endorphine werden ausgeschüttet, die wiederum unser Immunsystem stärken und unsere Leistungsfähigkeit erhöhen. Man versucht ja auch immer, einen Zeitpunkt für ganz frühe Erinnerungen festzulegen, wobei das ganz schwierig ist. Ich weiß nur noch, dass ich in der Vorschulzeit Schwierigkeiten hatte, „rot“ und „grün“ (Meseritz hatte damals schon eine Ampel!) und „billig“ und „teuer“ auseinander zu halten, was meinen Vater fast „auf die sprichwörtliche Palme“ brachte.
Ereignisse oder Vorgänge, die stark vom Alltäglichen abweichen, bleiben besonders im Gedächtnis haften. Das gilt für mich bezüglich der Russenzeit in Meseritz vom 30. Januar bis zum 26. Juni 1945 und die anschließende Vertreibung aus Meseritz.
Oft habe ich mir selbst die Frage vorgelegt, ob das alles so stimme, wie ich es beschrieben habe. (In kursiver Schrift habe ich einige Vorgänge oder Fakten gesetzt, die ich nicht selbst erlebt habe bzw. nur gehört habe, und für deren Wahrheit ich nicht bürgen kann). Das trifft besonders auf jene Zeit zu. Auch wenn ich jene Zeit schon separat dargestellt habe (KINTZEL 2012, Museum für Ostbrandenburg in Fürstenwalde) füge ich sie jetzt hinzu, weil sie den Abschluss meiner Kindheit in Meseritz bildet. Außerdem konnte ich sie durch das neuere Studium von Unterlagen im Museum für Ostbrandenburg ergänzen.
Dabei habe ich festgestellt, dass meine persönlichen Erinnerungen auffallend viele Übereinstimmungen mit anderen Erlebnisberichten aufweisen. Ich füge diese Berichte, soweit sie mir zugänglich waren, deshalb meiner Familienchronik – sicherlich auch zum besseren Verständnis für meine Nachkommen, die diese Zeit ja nicht erlebt haben – bei. So werden sicherlich meine subjektiv erlebten Erinnerungen in einen objektiveren Zusammenhang gestellt. Auszüge aus der Chronik der Familie Kintzel will ich nachfolgend darstellen, soweit sie die Zeit betreffen, an die ich selbst Erinnerungen habe bzw. die zum Verständnis der Familiengeschichte beitragen können.

Ich werde meine Darstellungen an den Heimatkreis Meseritz e.V., an die Bibliothek für die historische Region Ostbrandenburg der Stiftung Brandenburg im Haus Brandenburg in Fürstenwalde und an das Museum in Miedzyrzecz, vormals Meseritz, senden. So ist die Garantie gegeben, dass die Nachfahren der Meseritzer über eine bestimmte Zeit in der Stadt ihrer Altvorderen etwas erfahren, und die jetzt dort Lebenden diese Epoche auch als ihre Historie begreifen können.
Mein heimlicher Wunsch ist es, dass über die Russenzeit in meiner Vaterstadt Meseritz und die Vertreibung in deutsch-polnischer Zusammenarbeit eine objektive Geschichtsbetrachtung entsteht, zu der ich mit meinen subjektiven Erinnerungen und den angefügten Berichten der Zeitzeugen einen bescheidenen Beitrag geliefert habe, „denn ohne Geschichte bleibt man ein unerfahrenes Kind“. (LESSING).


Mein Vater
Meine Eltern stammen aus Meseritz. Mein Vater, Paul Gustav Adolf (*1882), war der Sohn eines Zimmermanns. Er ging ab 1895 in die Lehre bei dem Sattlermeister Richter, den wir immer „Onkel Richter“ nannten. Nach der Lehre begab sich mein Vater – wie damals so üblich – auf Wanderschaft. Nach der Militärzeit arbeitete mein Vater in Berlin, hier vor allem als Wagensattler. Gewerkschaftlich war er sehr aktiv, zeitweise als Vorsitzender der Wagensattler von Berlin. Die Jahre in Berlin haben ihn politisch sehr geprägt, denn er war schon 1902 in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands eingetreten. Mit großer Begeisterung erzählte er mir oft von SPD-Veranstaltungen in der Hasenheide, auf denen August Bebel sprach.

Als Demonstrant gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht wurde mein Vater an der Seite des damaligen Reichstagsabgeordneten (1900- 1918) Georg Ledebour von der Polizei verprügelt. (Der Begriff Dreiklassenwahlrecht wird für das Wahlrecht verwendet, das 1849 von König Friedrich Wilhelm IV. in Preußen nach der Revolution von 1848/49 zur Wahl der zweiten Kammer des Landtages, dem Abgeordnetenhaus, eingeführt wurde und bis zum Ende der Monarchie im Jahre 1918 in Kraft blieb. Es handelt sich dabei um eine spezielle Form des Zensuswahlrechts.
Die Bezeichnung rührt daher, dass die Wähler ein nach Steuerleistung in drei Abteilungen („Klassen“) abgestuftes Stimmengewicht besaßen. Unter Zensuswahlrecht versteht man ein Wahlsystem, das ein ungleiches Wahlrecht vorsieht. Wählen darf nur, wer gewisse Finanzmittel nachweisen kann. Der Nachweis erfolgt durch Steueraufkommen, Grundbesitz oder Vermögen. Zwar durften auch die Mindervermögenden wählen, ihre Stimme hatte aber weniger Gewicht.) Diese und andere Willkürma.nahmen verstärkten seine sozialdemokratische Grundhaltung, machten ihn zu einem glühenden Republikaner und Demokraten.

Als Sattlermeister zog er nach Meseritz, wo er sich selbstständig machte. Ich glaube, sein Meisterstück war die Anfertigung eines Kutschgeschirres. Er war Sattlermeister und Tapezierer, zeitweilig sogar Obermeister.

Das Ende des I. Weltkrieges erlebte mein Vater in Meseritz. Hier war er auch Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrates. Er muss auch bald (1918?) zum Vorsitzenden des SPD-Ortsvereins gewählt worden sein, denn das Mitgliedsbuch der SPD meiner Mutter (Nr. 47, 47. Mitglied in Meseritz?) trägt mit dem Datum 1. Januar 1919 die Unterschrift meines Vaters unter der Rubrik „Vorstand“. Aus seinen Erzählungen weiß ich, dass er auch Vorsitzender des SPD-Kreisverbandes Meseritz war (s. Faksimile). Nach den Aussagen meiner Brüder Karl und Hans galt mein Vater in Meseritz als der „rote Kintzel“.

Mein Vater hatte mir in meiner Kindheit, als wir in Mecklenburg wohnten, erzählt, dass er in der Zeit der Weimarer Republik (1919-1933) Mitglied der Stadtverordnetenversammlung in Meseritz war und dort die Funktion des stellvertretenden Stadtverordnetenvorstehers innehatte. Auch soll er SPD-Nachfolgekandidat für den Preußischen Landtag gewesen sein.


Ein Meseritzer Junge erzählt – Walter Kintzel

Es entzog sich meiner Kenntnis – er hatte mir nur den Fakt mitgeteilt, keine Zeitspanne, ich hatte auch nicht nachgefragt - in welchen Jahren das war. Auch hatte ich keine schriftliche Nachricht darüber. Vielleicht hatte er irgendwelche schriftlichen Dinge (Zeitungsartikel, Wahlbestätigung, Abgeordnetenausweis, Sitzungsprotokolle o. ä.) aufbewahrt, ob sie die Nazizeit überdauert haben, weiß ich nicht. Nur zu gern hätte ich als Kind irgendwo gelesen „Paul Kintzel ist Stadtverordneter“. Ich hatte mich schon damit abgefunden, dass ich schriftlich darüber nie etwas erfahren würde. Dann kam 1990 die Einheit Deutschlands. Mit dem mir innewohnenden Geschichtsbewusstsein, das Heimatliebe zu meiner Geburtsstadt und Familientradition einschließt, hatte ich sofort den Kontakt zum „Heimatkreis Meseritz“ und seinen Veröffentlichungen gesucht. (In DDR-Zeiten war solche Heimatforschung nicht möglich und als „Revanchismus“ verschrien.) Der „Heimatkreis Meseritz“ gibt jährlich vier Hefte heraus, die den Namen „Heimatgruß“ führen. In einem dieser Hefte wurde ich fündig.

Im „Heimatgruß“ Nr. 131 vom Dezember 1994 erschien ein Artikel über die Renovierung des Rathausturmes im Jahre 1924. Im Zuge der Renovierung wurden die vorgefundenen Urkunden und eine „Kunde für spätere Geschlechter“ deponiert. Diese Kunde beschrieb die damalige Situation in der Stadt Meseritz, u. a. wird eine Übersicht zur Zusammensetzung der Stadtverordnetenversammlung gegeben. Hier der Auszug:

Die Stadtverordnetenversammlung zählt zur Zeit 18 Mitglieder und zwar: Molkereibesitzer Paul Dittmann,
Stadtverordnetenvorsteher Kreisausschuß-Obersekretär Rudolf Berger,
Maurermeister Paul Donath,
Zimmermann Max Eitner,
Kaufmann Paul Gumpert,
Tischlermeister Robert Griesche,
Rektor Gustav Henschel,
Schneidermeister Reinhold Janisch,
Ackerbürger Johannes Kurtzahn,
Sattlermeister Paul Kintzel,
Eisenbahn-Ingenieur Wilhelm Meyer,
Schuhmachermeister Richard Michalowski,
Oberpostsekretär William Moesicke,
Kaufmann Max Rathe,
Konrektor Robert Schmidt,
Justiz-Oberinspektor Alfred Seiser,
Landwirt Gregor Wilhelm,
Gewerkschaftssekretär Bronislaus Wojciechowski.


1994 wurde der Turmkopf erneut restauriert. Man gab das vorgefundene historische Material wieder in eine Kartusche, die in der Turmspitze deponiert wurde. So müsste auch den kommenden Geschlechtern verkündet werden, dass es einmal, als Meseritz noch deutsch war, einen Sattlermeister Paul Kintzel gab, der Mitglied der Stadtverordnetenversammlung in Meseritz war.
Bemerkung: Nach den Erzählungen meiner Eltern war der Abgeordnete Zimmermann Max Eitner SPD-Mitglied; es ist davon auszugehen, dass der Gewerkschaftssekretär Bronislaus Wojciechowski ebenfalls Mitglied der SPD war. Dann waren zusammen mit meinem Vater drei Sozialdemokraten in der Stadtverordnetenversammlung.

Als überzeugter Republikaner und Demokrat war mein Vater in der Weimarer Republik in Meseritz und Umgebung politisch sehr aktiv. Er erzählte mir öfter von Wahlkampfveranstaltungen der SPD in den Dörfern der Umgebung und von Konflikten bei der Beseitigung von SPD-Wahlplakaten durch die Nazis. Listigerweise hatte er sich einen Hund angeschafft, der ihn als Schutz bei seinen Plakattouren begleitete.
Nach den geklebten Mitgliedsmarken im Mitgliedsbuch meiner Mutter zu urteilen sind noch SPD-Beitragsmarken weit in das Jahr 1933 eingeklebt worden, obwohl die SPD als volks- und staatsfeindliche Organisation am 22. Juni 1933 verboten wurde.

In der Werkstatt meines Vaters trafen sich die Mitglieder der verbotenen SPD zu konspirativen Zusammenkünften so bis 1935, denn als sie einmal wieder versammelt waren, machte einer die Bemerkung, dass mein Bruder Hans in der Werkstatt sei und sie sich nicht offen unterhalten könnten. Darauf sagte mein Vater, dass er für seinen Sohn bürge, der würde nichts verraten. Das weiß ich von meinem Bruder Hans, der damals bei meinem Vater in der Lehre war. Irgendwie hat die Polizei aber Kenntnis von diesen geheimen Zusammenkünften bekommen, mein Vater wurde zur Polizei bestellt und mit Haft (Konzentrationslager?) bedroht.

Ein Meseritzer Junge erzählt – Walter Kintzel Sein SPD-Mitgliedsbuch rettete mein Vater über die Nazizeit, in der Russenzeit leistete es ihm gute Dienste. Als wir im Juni 1945 aus Meseritz vertrieben wurden, nahm mein Vater die SPD-Mitgliedsbücher mit. In den Nachkriegsjahren, als er als Waldarbeiter tätig war, nahm er sein Mitgliedsbuch einmal in den Wald mit, um es seinen Kollegen zu zeigen. Im Wald muss er es verloren und nicht gleich bemerkt haben; danach war er sehr traurig, hatte er doch damit eine wesentliche Identifikation seines Lebens verloren. Ich kann ihn sehr gut verstehen. Ich konnte es nicht wiedergutmachen, aber dass ich zu seinem Geburtstag am 24. November 1989 in die SDP (Sozialdemokratische Partei der DDR) eingetreten bin, 1990 Vorsitzender des SPD-Ortsvereins Lübz wurde und schließlich als SPD-Kreistagsabgeordneter zum Kreispräsidenten im Kreistag Lübz gewählt wurde, hätte ihn sicherlich mit großem Stolz erfüllt. So gesehen, habe ich wie kein anderer seiner Söhne sein Vermächtnis erfüllt.

Ende 1945 begann mein Vater, einen SPD-Ortsverein in der Gemeinde Wahlstorf, wo wir seit dem 1. September 1945 wohnten, ins Leben zu rufen. Es muss besonders unter den Flüchtlingen und Vertriebenen ein großer Zulauf gewesen sein, denn ich fand im Archiv des Landratsamtes Parchim eine Liste mit SED-Mitgliedern aus Wahlstorf, die wie mein Vater dasselbe Eintrittsdatum hatten (s. Faksimile).
Das SED-Mitgliedsbuch ist der Beweis, dass sich ab 1. Januar 1946 die SPD in der Gemeinde Wahlstorf gegründet hatte. Auf den SPD-Mitgliedskarten bzw. Ersatzmitgliedskarte sind wahrscheinlich die Eintrittstermine – bürokratisch verzögert? – eingetragen, bei meinem Vater unter der Rubrik „vor 1933“ auch mit „Apeil 1946“ eine falsche Zuordnung. Diese Mitgliedskarten sind mit einem Aufnahmestempel der SED überstempelt worden. Mein Vater war ein erbitterter Gegner der Zwangsvereinigung von der SPD mit der KPD zur SED. Bereits im Frühjahr 1948 – nach den eingeklebten Mitgliedsmarken recherchiert – ist er aus der SED ausgetreten. Nach seinen eigenen Worten (mir so berichtet):
„Ich mach es wie der König von Sachsen. Macht Euch doch Euren Dreck alleene“. Dann ließ er das berühmte Zitat aus dem Götz von Berlinchen folgen!
Ich bin fest davon überzeugt, irgendwann hätte man ihn aus der SED ausgeschlossen, denn er forderte freie Wahlen und hatte eine Unterschriftensammlung initiiert, die zur Rückkehr der Vertriebenen und Flüchtlinge in die deutschen Ostgebiete aufforderte.

Doch kehren wir in die bewegte Zeit nach dem I. Weltkrieg zurück. Der Kreis Meseritz als Teil der Provinz Posen wurde von polnischer Seite beansprucht. Die Deutschen wehrten sich dagegen und gründeten den „Deutschen Volkstag Westposens“, zu dem Vertreter gewählt wurden.
Mein Vater war im besten Sinne des Wortes ein nationaler Sozialdemokrat. Das zeigt u. a. sein Eintreten für die deutschen Interessen nach dem I. Weltkrieg. So wurde er z. B. zum Abgeordneten des Deutschen Volkstages Westposens am 8. Dezember 1918 gewählt.
Die Waffen sprachen eine andere Sprache, es kam zum Posener Aufstand, er währte vom 27. Dezember 1918 bis zum 16. Februar 1919, es war SED-Mitgliedsbuch meines Vaters ein militärischer Aufstand von Polen in der preußischen Provinz Posen.
Ziel war es, eine Eingliederung der mehrheitlich polnischsprachigen Provinz in den nach dem Ersten Weltkrieg wiedererstandenen polnischen Staat zu erreichen. Die nahe Polnische Armee, die weiter nach Westen drängte, wurde von deutscher Seite als bedrohlich empfunden. Mit einem mehr oder weniger spontan organisierten Grenzschutz (Sammelbezeichnung für die 1918/1919 aufgestellten Verbände aus Freikorps und Freiwilligen-Verbänden) versuchte man zunächst, entlang der neuen Ostgrenze das polnische Vordringen aufzuhalten.
Der Grenzschutz im Kreis Meseritz stand unter der Führung von General Hoffmann, der sich mit seinem Stab im Gebäude der Meseritzer Mittelschule in der Bismarckstraße befand. Im Grenzgebiet lieferten sich Polen und Deutsche bewaffnete Kämpfe. Der deutsche Grenzschutz ging zu Gegenangriffen über und es kam zur Fortsetzung der Kämpfe. Es drohte eine Eskalation und die Gefahr bewaffneter Auseinandersetzungen auch in anderen zwischen Deutschland und Polen umstrittenen Gebieten.
Am 16. Februar 1919 wurde schließlich in Trier eine Verlängerung des Waffenstillstandes der Alliierten mit dem Deutschen Reich unterzeichnet, die auch Bezug auf die Entwicklung in der Provinz Posen nahm.

Ein Meseritzer Junge erzählt – Walter Kintzel


Die Karte zeigt die Grenzen der Provinz Posen und die Demarkationslinie beim Waffenstillstand am 16. Februar 1919. Das Deutsche Reich verpflichtete sich, auf alle Feindseligkeiten an der Grenze zu Polen zu verzichten.
Der Großpolnische Aufstand endete damit offiziell. Die Armee der Aufständischen fand indirekt Anerkennung als alliierte Streitmacht. Faktisch bewirkte der alliierte Druck einen Abbruch der Kämpfe und eine militärische Demarkationslinie wurde festgelegt. Vereinzelt fanden in den Wochen danach noch einige lokale Gefechte statt.
Der Aufstand endete mit einem militärischen und politischen polnischen Sieg. Der Hauptteil der bisherigen Provinz Posen wurde noch vor Inkrafttreten der Bestimmungen des Versailler Vertrages faktisch vom Deutschen Reich abgetrennt.

Am 28. 6. 1919 wurde der Versailler Vertrag zwischen den 26 alliierten und assoziierten Mächten und dem Deutschen Reich zur Beendigung des Ersten Weltkriegs (1914-1918) unterzeichnet, er trat am 10.1.1920 in Kraft.

Im Teil II., Grenzen Deutschlands, hieß es im Artikel 27:
„Die Grenzen Deutschlands werden folgendermaßen festgelegt.
7. Gegen Polen eine im Gelände noch zu bestimmende Linie, die östlich Lupitze und Schwenten verläuft; von dort nach Norden bis zum Nordende des Chlopsees; eine im Gelände noch zu bestimmende Linie, die der Mittellinie der Seen folgt; wobei jedoch Stadt und Bahnhof Bentschen (einschließlich des Knotenpunkts der Linien Schwiebus - Bentschen und Züllichau – Bentschen) auf polnischem Gebiet bleiben; von dort nach Nordosten bis zum Treffpunkt der Grenzen der Kreise Schwerin, Birnbaum und Meseritz; eine im Gelände zu bestimmende Linie, die östlich von Betsche vorbeiführt; von dort nach Norden die Grenze zwischen den Kreisen Schwerin und Birnbaum, dann nach Osten die Nordgrenze Posens bis zum Schnittpunkt dieser Grenze mit der Netze.“

Durch diese Grenzziehung fielen beinahe die ganze Provinz Posen und der größte Teil der Provinz Westpreußen an Polen. Deutschland musste schmerzliche Gebietsverluste hinnehmen. An Polen musste abgetreten werden:

Provinz Westpreußen mit 15.865 qkm und der Bevölkerung von 965.000 (Jahr 1910)
Provinz Posen mit 26.042 qkm und der Bevölkerung von 1.946.000 (Jahr 1910)



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Die schließlich festgelegte Grenze zwischen Polen und dem Deutschen Reich im Posener Land verlief zum Nachteil des Reichs weiter westlich, als es in der Waffenstillstandsvereinbarung zwischen deutschen und polnischen Truppen vom 16. Februar 1919 vorgesehen war. Die damals vereinbarte Demarkationslinie ließ Lissa, Bojanowo, Bentschen und Birnbaum – Orte, die später im Friedensvertrag an Polen fielen – bei Deutschland. Die definitive Grenzziehung zwischen dem Deutschen Reich und Polen entsprach keineswegs den deutschen Vorstellungen.
Lediglich die Kreise mit einer starken deutschen Bevölkerung blieben bei Deutschland: Die Kreise Fraustadt, Bomst, Meseritz (aber der östliche Teil des Kreises Meseritz mit der Stadtgemeinde Bentschen wurde an Polen abgetreten), Schwerin, Schönlanke, Deutsch Krone, Flatow, Schlochau und die Stadt Schneidemühl sowie die östlich von Weichsel und Nogat gelegenen Teile der Provinz Westpreußen wurden nicht abgetreten. Für die bei Deutschland verbliebenen Gebiete der beiden Provinzen musste alsbald eine Verwaltungsregelung getroffen werden. Man sprach zunächst davon, die Kreise an die Provinzen Schlesien, Brandenburg und Pommern anzuschließen, entschloss sich dann jedoch, durch ein preußisches Gesetz vom 1. Juli 1922 einen Auftrag zu erfüllen, der bereits in der preußischen Verfassung von 1919 vorgeschrieben war; die Grenzmark war darin schon als Provinz aufgeführt.


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Ab 11. Januar 1921 trug der bisherige Verwaltungsbezirk Grenzmark Westpreußen-Posen die Bezeichnung „Grenzmark Posen-Westpreußen“. Am 1. Juli 1922 kam der Kreis Meseritz zur neuen preußischen Provinz Grenzmark Posen- Westpreußen und ab 1. August 1922 zum neu gebildeten Regierungsbezirk Schneidemühl. So entstand die Provinz Grenzmark Posen- Westpreußen. Der Name hebt ihre Besonderheit hervor. Er erinnert nicht nur an zwei Provinzen, deren Abtretung im ganzen Umfang von deutscher Seite als nicht gerechtfertigt angesehen wurde, wie es auch in der Bezeichnung »Grenzmark« anklang.
Innerhalb der neuen Provinz wirkte mein Vater in der Handwerksinnung und in seinem Beruf als Sattler besonders für die Bauern und Güter der Dörfer um Meseritz, während sich seine Tätigkeit als Tapezierer mehr auf Meseritz beschränkte.


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Mein Vater war Sattlermeister und Tapezierer. Das obige Faksimile ist sicher die Vorlage für eine Rechnung. Jedenfalls weist seine Handwerkskarte aus dem Jahr 1931 ihn als Inhaber eines Tapezierereibetriebes aus.


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Es ist wie ein Wunder, dass mein Vater so etwas in dem großen Wirrwarr und Durcheinander vor unserer Vertreibung aus Meseritz am 26. Juni 1945 retten konnte und mit auf den Treck nahm.
An dieser Stelle muss ich im Nachhinein meinem Vater hohe Anerkennung zollen, dass er sehr ideell gedacht und gehandelt hat, in dem er wertvolle Familiendokumente, u.a. das Stammbuch, und auch Fotos nicht vergaß. Ich weiß von Freunden, die von ihren Eltern aus der Zeit von vor 1945 keinerlei Fotos mehr besitzen, traurig und tragisch für die Geschichte der einzelnen Familien.

Meine Mutter, Berta Emma Kintzel, geb. Päch, wurde 1893 „auf der Winitze“ geboren. Ihr Vater war Kutscher und Arbeiter, ihre Mutter war Hausfrau. In Meseritz besuchte sie die Volksschule. Die Winitze war eine Landgemeinde und wurde 1923 in die Stadt Meseritz eingemeindet. Ich vermute, dass die Redewendung „auf der Winitze“ daher rührt, dass die Winitze etwas oberhalb der Obra lag.

Ein Meseritzer Junge erzählt – Walter Kintzel

Einige Erlebnisse hat mir meine Mutter aus ihrer Kindheit erzählt. Ich gebe sie wieder, ohne damit ein vollständiges Bild von ihr zu zeichnen, aber vielleicht sind es ja gar die Episoden, die die Persönlichkeit eines Menschen offenbaren.
Als Vorschulkind hatte sie eine Puppe, die sie einmal auf einen Korb mit Kartoffeln gelegt hatte. Beim Ausschütten des Korbes ging die Puppe kaputt, meine Mutti hat sehr geweint. Ihre Mutter sagte zu ihr: „Was heulst Du denn so, Ostern kommst Du ja schon in die Schule.“ (Zu Ostern erfolgte damals die Einschulung der Kinder.) Damit wollte sie ausdrücken, dass meine Mutti doch schon groß sei und nicht mehr mit Puppen spielen müsse. Meine Mutti war damals 5 Jahre alt. Der Hintergrund war aber wohl, dass meine Großeltern so arm waren und keine andere Puppe kaufen konnten. Wenn mir das meine Mutter erzählt hat, als ich klein war, habe ich immer voller Mitleid geweint.

1902 ritt Kaiser Wilhelm II. von Obergörzig kommend über die Winitze zum Bahnhof Meseritz. Die Leute standen alle an der Straße und der Kaiser grü.te vom Pferd militärisch, das mir meine Mutter mehrmals vormachte.
Meine Oma ging oft mit den Kindern in den Wald, um Beeren, Pilze und Reisig zu sammeln. Als einmal ein stattlicher Hirsch ihren Weg kreuzte, legte sich meine Mutter vor Angst schnell unter den Kinderwagen.
Wie es damals so üblich war, gingen die Mädchen aus den armen Familien „in Stellung“, das heißt, sie arbeiteten im Haushalt begüterter Familien. Diesen Weg ging auch meine Mutter, ob sie erst in Meseritz arbeitete, weiß ich nicht, später war sie dann aber in Stellung in Berlin. Dort ging sie auch zum ersten Mal zum Tanz, ihr erster Tanzpartner war ein Trainsoldat (Soldat einer Nachschubeinheit), wie sie es mir erzählte. Im I. Weltkrieg arbeitete sie dann in der Fabrik von Siemens & Halske, wo sie in der Kabelproduktion beschäftigt war.
Ihr Vater, also mein Großvater, war ein Regimentskamerad meines Vaters. Über diesen Weg lernte mein Vater seine zweite Frau, meine Mutter, kennen, seine erste Frau war im I. Weltkrieg an der Schwindsucht gestorben. Aus der ersten Ehe gingen drei Kinder, ein Mädchen und zwei Jungen, hervor, auf die ich später noch eingehen werde.

Meine Mutter und mein Vater hatten drei Söhne: Karl (*1919), Hans-Joachim (*1921) und Walter (*1936), die alle in der Schlafstube in der Kirchstraße 16 geboren wurden. Hausgeburten unter Mithilfe einer Hebamme waren damals üblich.

Meine Geschwister
Aus der ersten Ehe meines Vaters gingen Kurt (*1906), Walli (*1909) und Paul (*1914) hervor. Kurt hatte bei meinem Vater Sattler gelernt, verließ danach Meseritz, heiratete in Niederbayern und kam nach meiner Erinnerung nur sehr selten nach Meseritz. Ich kann mich nur an ein einziges Mal an ihn erinnern, das war im Sommer 1944, als er aus Warschau nach Meseritz auf Urlaub kam.


Ein Meseritzer Junge erzählt – Walter Kintzel
Ein Meseritzer Junge erzählt – Walter KintzelKurz vor Weihnachten 1944 bekamen meine Eltern die Nachricht, dass mein Bruder Kurt bei Kämpfen im Raum Warschau als vermisst gemeldet wurde. Da ich Näheres wissen wollte, erkundigte ich mich im Jahr 2004 bei der dafür zuständigen Dienststelle und bekam die Antwor, dass mein Bruder Kurt in Königsberg gefallen war.
Von meinen Eltern mit den drei Söhnen existiert nur ein Foto aus dem Jahr 1941 (Frühjahr?). Es zeigt Karl als Soldat und Hans als Angehörigen des RAD (Reichsarbeitsdienst).

Offensichtlich wurden damals unter dem Druck der russischen Offensive neue Truppenteile zusammengestellt und verlegt, so dass mein Bruder Kurt zu einer Kampftruppe nach Königsberg kam. Das Grenadierregiment 1143 wurde am 6. August 1944 aus Teilen der Grenadier-Regimenter 1141 und 1142 für die 561. Grenadier-Division, später 561. Volks-Grenadier-Division, aufgestellt und wurde bei den Kämpfen in Königsberg vernichtet.
Die Wehrmachtseinheiten, die die Flucht der ostpreußischen Bevölkerung deckten, haben sich richtig geopfert. Dadurch gelang es unter anderem, am 19. Februar den Einschließungsring um Königsberg noch einmal zu sprengen und den Fluchtweg für Zehntausende durch das südliche Samland nach Pillau und dann über See zu ermöglichen.

Mein Bruder Kurt hinterließ eine Frau mit drei Kindern.
Meine Schwester Walli, Jahrgang 1909, heiratete Herbert Loose, einen Friseur aus Niederschlesien, der bei dem Friseur Hirschmann in Meseritz beschäftigt war. Sie zogen nach Berlin, wo sie in Charlottenburg in der Bleibtreustraße ein Friseurgeschäft hatten.


Ein Meseritzer Junge erzählt – Walter Kintzel

Leserbrief von Prof. Markus Krämer, Essen (August 2023)

Vielen Dank dem Autor, seine Familiengeschichte mit uns geteilt zu haben. Trotz der Individualität von Familienerinnerungen finde ich biographische Schilderungen im „Heimatgruss“ interessant, da deutsche Geschichte exemplarisch illustriert wird. Walter Kinzel schreibt von seiner Halbschwester Walli, die den niederschlesischen Friseur Herbert Loose geheiratet habe, der beim Friseur Hirschmann in Meseritz beschäftigt gewesen sei. Gleichzeitig zeigt der Autor ein Hochzeitsfoto (s. o.) von Walli und Herbert Loose und fragt sich, warum die Eltern der Braut nicht auf dem Foto abgebildet seien.
Dies kann ich zwar nicht auflösen, doch kann ich einen anderen Hochzeitsgast auf dem Foto identifizieren: die fünfte Person von links-stehend hinten ist Erich Pelz, mein Großonkel, der 1905 in Birnbaum geboren wurde, ab 1920 in Meseritz wohnte und der mit dem abgebildeten Bräutigam Herbert Loose befreundet war. Erich Pelz absolvierte von 1920 bis 1923 ebenfalls eine Friseur-Lehre beim Friseur Hirschmann.

Im Nachlass des 1994 in Pretoria in Südafrika verstorbenen Erich Pelz findet sich ein Brief des Freundes Herbert Loose, der zeitlich deutlich nach dem 08.07.1943 an meinen Großonkel im rhodesischen Internierungslager geschrieben sein muss.
Darin berichtete Herbert Loose davon, dass seine Frau Wally (sic!) jetzt wieder in Meseritz bei den Eltern wohne, dass sein Sohn schon im nächsten Jahr zur Schule komme und er im Heimaturlaub im November in Meseritz seine 14 Tage alte Tochter erstmals kennengelernt habe. Auch auf einen anderen Hochzeitsgast geht er in diesem Brief ein: „Ein Schwager von mir, der damals auch bei der Hochzeit war, befindet sich in englischer Gefangenschaft: von Italien brachte man ihn nach Afrika und jetzt ist er auf dem Weg nach Kanada. Er hat bisher fleißig geschrieben. Er hatte 42 im November geheiratet. Kinder hat er noch keine.“
Insofern zeigt sich, dass individuelle Familiengeschichten vorher verschüttete Querverbindungen zutage fördern und Meseritzer Erinnerungen auch für weitere Generationen lebendig halten.

Ein Meseritzer Junge erzählt – Walter Kintzel
Lehrbrief (Friseurinnung) und Prüfungszeugnis der Handwerkskammer von Erich Pelz (1923)


Paul Kintzel, Jahrgang 1914, lernte Fleischer bei dem Fleischermeister Leschke in Pieske. Karl Leschke und mein Vater waren zur gleichen Zeit Lehrlinge in Meseritz, der Sattlerlehrling und der Fleischerlehrling wurden Jugendfreunde und sie verband eine lebenslange Freundschaft. In Pieske lernte Paul Kintzel junior auch seine Frau Hildegard Tomiak kennen, die bei dem dortigen Pfarrer in Stellung war. Die Familie Tomiak kam aus dem Ruhrgebiet (Essen) nach Wischen, einem Dorf süd.stlich von Meseritz. Paul und Hildegard heirateten am 3. November 1942 auf der Silberhochzeit von Paul sen. und Berta Kintzel. Zur damaligen Zeit war Paul jun. Soldat, er hatte sich länger verpflichtet und war damals Unteroffizier. Zunächst war er an der Ostfront, wo er schwer verwundet wurde, dann in Italien. Dort geriet er 1943 in angloamerikanische Gefangenschaft und wurde per Schiff in die USA gebracht. Nach dem Krieg wurde er nach England verlegt und wurde von dort (1948?) aus der Gefangenschaft entlassen. Das folgende Foto zeigt meinen Bruder Paul mit seiner Frau Hildegard, es war sein letzter Urlaub in Meseritz.


Ein Meseritzer Junge erzählt – Walter Kintzel
Paul und Hildegard Kintzel (Februar 1943)


Das Foto sammelte mein Vater im Frühjahr 1945 neben anderen Familienfotos aus dem Schutt der gesprengten Postfernsprechzentrale in Meseritz. Den Tipp dazu bekam er von einer Frau aus Meseritz, die unsere Familie kannte und die Fotos dort liegen sah. Plündernde Russen oder Polen hatten neben anderen Utensilien auch die Fotos aus unserer Wohnung in der Kirchstraße (diese stand zu diesem Zeitpunkt leer, s. Russenzeit.) mitgenommen und sie dann weggeworfen.

Ein Meseritzer Junge erzählt – Walter Kintzel
Obergefreiter Karl Kintzel als Panzersoldat (1944)


Karl lernte in Meseritz bei dem Friseurmeister Leo Zwack Friseur. Nach beendeter Lehre ging er nach Berlin. Als Soldat war er u. a. in Nordafrika bei der Rommel-Truppe, in Finnland und an der Ostfront. Nach dem II. Weltkrieg wohnte Karl in Berlin (Ostberlin).

Hans lernte bei meinem Vater Sattler und Tapezierer und sollte das Geschäft meines Vaters einmal übernehmen (s. auch Testament meiner Eltern). Nach beendeter Lehre arbeitete er eine kurze Zeit noch bei meinem Vater, wurde dann zum Reichsarbeitsdienst eingezogen und danach zur Wehrmacht. Als Angehöriger eines Funktrupps war er an der Ostfront, in der Ukraine, im Kaukasus, in Griechenland und Jugoslawien. Auf dem Rückzug geriet er in Bayern in amerikanische Gefangenschaft und türmte aus dem Gefangenenlager.


Kindheit in Meseritz vor 1945
Da gibt es für jeden von uns die angeblich so wichtigen und bedeutenden Ereignisse, und im Laufe der Zeit vergessen wir die meisten von ihnen völlig, als habe es sie nie gegeben. Und daneben die eine, die andere Kleinigkeit, scheinbar so abseitig und belanglos, und doch bleibt sie uns mit einer schier unglaublichen Anschaulichkeit in Erinnerung und lässt sich heraufrufen.
Herbert Reinoß


Ein Meseritzer Junge erzählt – Walter Kintzel
Hans Kintzel als Rekrut (Sommer 1941)
Beginnen will ich mit der Schilderung meiner Kindheit vor 1945, manchmal Episoden „scheinbar und so belanglos“, aber sie blieben im Gedächtnis. Als ich am 28. August 1936 in Meseritz, Kirchstraße 16, so um 01.20 Uhr, geboren wurde, gehörte mein Geburtsort zur Grenzmark Posen-Westpreußen. Mein Geburtshaus in Meseritz (2004) Die drei Fenster in der 3. Etage gehören zu unserer Wohnung. Das rechte Fenster unter der Bogenlampe gehört zum Schlafzimmer, in dem ich geboren wurde. Wenn ich mich heute an bestimmte Ereignisse erinnere und sie aufschreibe, versuche ich natürlich, sie zeitlich einzuordnen. „Wie weit reicht meine Erinnerung zurück?“ Diese Frage stelle ich mir immer wieder.

Als ich 1936 geboren wurde, war meine Mutti todunglücklich. Sie war 43 Jahre alt, mein Vater wurde 54 – und das in einer Kleinstadt zu damaligen Verhältnissen. Als meine Mutti meinem Vater ihre Sorgen „Was soll denn aus dem Jungen mal werden, wir sind bald alt“ kundtat, entgegnete mein Vater: „Du sollst sehen, dessen Kinder schaukle ich noch auf meinen Knien!“

Er sollte Recht behalten, denn 1963 wurde unser ältester Sohn Birger geboren. Sein Enkel Birger war der ganze Stolz des Opas Paul Kintzel, und der Birger war ganz vernarrt in seinen Opa. Mein Vater wollte so lange leben, dass der Birger an ihn noch eine Erinnerung hat, das hat er mir öfter gesagt. Meine Kindheit in Meseritz war eigentlich unbeschwert und glücklich. Meine Mutti war immer zu Hause und daher für mich immer ansprechbar. Als Kind sah ich es immer als großen Vorteil an, dass ich nicht in den Kindergarten – so wie meine Spielgefährten Ingo Ebel und Rüdiger Preuß – „musste“. Ich konnte immer auf dem für uns Kinder großen Hof spielen.



Ein Meseritzer Junge erzählt – Walter Kintzel
Paul Kintzel mit seinem Sohn Walter (vermutl. Ende 1936/Anfang 1937)
Als Erwachsener, als ich in Meseritz war, sah ich, dass der Hof sehr schmal war, aber er war sehr lang. Die Vorderfront des Hauses Kirchstr. 16 lag an der Kirchstraße, einer Hauptverkehrsstraße von Nord (Schwerin a. d. Warthe) nach Süd (Schwiebus), die Hinterseite des Grundstückes grenzte an die Bischofstraße, eine Nebenstraße, die zur katholischen Kirche und zum Wohnsitz des katholischen Propstes führte. Die Glocken der katholischen Kirche läuteten täglich um 12 Uhr, das war für mich das Signal zum Mittagessen, denn in unserer Familie wurde immer um 12 Uhr gegessen. Sobald der erste Glockenton erklang, eilte ich nach Hause. Da ich sehr schnell war – meine Mutter nannte mich in Anlehnung an den finnischen Läufer „Nurmi“ – kam ich pünktlich zum Essen. Nur einmal hatte ich das verpasst. Als mich mein Vater fragte, warum ich nicht pünktlich zum Essen gekommen sei, antwortete ich: „Die Glocken haben nicht geläutet.“

Das stimmte auch, denn an diesem Tag wurden (eine oder zwei?) Glocken vom Kirchturm abgeseilt, weil aus der Glockenbronze kriegswichtiges Material – Kupfer und Zinn wurden z. B. zur Herstellung von Geschosshülsen verwendet - hergestellt wurde. Welch hoher Wert diesen Metallsammlungen zugemessen wurde, zeigt die Verordnung zum Schutz der Metallsammlung des deutschen Volkes (29. März 1940). Dort heißt es u.a.: „Wer sich an gesammeltem oder von Verfügungsberechtigten zur Sammlung bestimmtem Metall bereichert oder solches Material sonst seiner Verwendung entzieht, schädigt den großdeutschen Freiheitskampf und wird daher mit dem Tode bestraft.“ Für uns Kinder war das Abseilen der Glocken ein spektakuläres Schauspiel.

Der Hof war an der Südseite flankiert von den Holzställen, in denen Holz und Kohlen lagerten sowie Gartengeräte, Fahrräder und auch sperrige Spielsachen, z. B. mein Dreirad. Hinter dem letzten Holzstall, es war unser, befand sich die Aschkuhle, das war also nicht nur eine Deponie für Asche, sondern auch für viele andere Dinge aus dem Haushalt. Manchmal roch es im Sommer ganz durchdringend. Dahinter hatte unser Hauswirt, der Rechtsanwalt Dr. Johannes Ebel, seine Autogarage.
Dann folgte ein Schuppen, wo mein Vater Polstermaterial (Seegras, Rosswolle, Indiafaser) Gestelle, Sprungfedern sowie die Zuppmaschine aufbewahrte. Es schloss sich die Werkstatt meines Vaters an. Ein großer und hoher Bretterzaun grenzte den Hof zur Bischofstraße ab. An der Nordseite befand sich der Spanner, ein Gerüst zum Spannen der Gardinen, das bewerkstelligte meine Mutti. Daran schloss sich ein langer Garten an, von dem der größte Teil uns gehörte. Da zum Nachbarn – Schlosser Ruff – eine hohe Wand stand, auf die die Südsonne brannte, war das ein idealer Standort für Tomaten, zumal die Wand unten schwarz angestrichen war. Das gab herrliche Tomaten. Übrigens: Mein Vater aß zeitlebens immer nur die Tomaten, die er selbst in seinem Garten gezogen hatte. Ein Stück der Wand war mit Weinreben versehen, die dort auch gut gediehen. Das Weinspalier ist in dem unteren Foto mit der Couch gut zu erkennen im HIntergund.


Ein Meseritzer Junge erzählt – Walter Kintzel
von links: mein Spielkamerad Rüdiger Preuß, mein Bruder Hans, Lehrling Werner Fesser, Walter (1940)

Der Hof war unser Spielplatz, im Sommer Fahren mit dem Dreirad, Versteck spielen, Schaukeln in der Hängematte; im Winter bauten wir uns eine Schneeschanze oder legten ein Eishockeyfeld an. Besonders schön, wenn wir bei frostigem Wetter und Mondschein spät am Abend spielen durften. Schlittschuhe hatten wir nicht, wir „schlunderten“ auf unseren Schuhen, der Puck war ein Stück Kohle.
An diese Zeit erinnern auch einige der Fotos. Meine Eltern hatten keinen Fotoapparat, daher sind wohl diese Bilder von meiner Schwester Walli aufgenommen worden, die eine Box, so nannte man damals den billigen Fotoapparat, besaß. Nicht immer sind auf der Rückseite Vermerke, so dass die zeitliche Zuordnung nicht immer einfach ist.

Ein Meseritzer Junge erzählt – Walter Kintzel
Kirchstr. 16 (2 Fahrräder stehen im Bild rechts vor dem Haus)


Ein Meseritzer Junge erzählt – Walter Kintzel
Kirchstr. 16 (Blickrichtung Schwiebus – die Uhr von Uhrmacher Handke ist im Bild links zu sehen, ebenfalls die drei Fenster unserer Wohnung.)


Ein Meseritzer Junge erzählt – Walter Kintzel
Walter mit Walli (Sommer 1937)
Da wir im dritten Stock wohnten, hatten wir eine gute Aussicht auf die Stadt und nach Südwesten einen Blick bis fast zum Horizont. Der Horizont war der Kainschtner Berg – auch Russenberg genannt -, der 132 m hoch war, da Meseritz in einem Talkessel lag, wirkte er noch höher. Der „Horizont“ war etwa 6 km entfernt, für ein Kind doch eine beträchtliche Entfernung. Irgendwie hat mich diese Wohnlage aber für mein Leben geprägt. Ich fühlte mich in solchen Stuben oder Wohnungen wohl, die diese Lage hatten. (Als wir später 1964-1975 in der Lübzer Marienstraße ein Wohnzimmer hatten, dessen Fensterfront nach Nordosten zeigte, öffnete ich oft die Küchentür, damit die Sonne reinscheinen konnte.)

Von dieser hohen Warte aus in der Kirchstraße 16 diagnostizierte mein Vater immer das Wetter. Es gehörte offenbar zu seinem morgendlichen Ritus, aus dem Fenster nach dem Wetter zu schauen. „Der Wind kommt aus der Dreckecke, es wird bald regnen“, das konnte meinen Bruder Karl immer aufregen; offensichtlich konnte er mit dieser Himmelsrichtung nicht viel oder nichts anfangen. Ich liebte es, über die Dächer der Altstadt zu blicken, besonders im Sommer, wenn die erhitzte Luft über den Dächern flimmerte. Unauslöschlich in mein Gedächtnis eingegraben, sehe ich das heute noch in Gedanken.

Das nächste Foto (aus dem Jahr 1993) habe ich deswegen eingefügt, weil es noch den Anbau zeigt. Der blaue Pfeil zeigt auf ein Fenster, von dem aus man auf das Dach klettern konnte. Aus meiner heutigen Sicht war das kreuzgefährlich, weil ja das flache Dach nirgendwo an der Seite einen Halt bot. Entlohnt wurde man mit einer herrlichen Sicht über die Höfe und Häuser und natürlich mit der kindlichen Abenteuerlust. Allerdings durften das meine Eltern nicht wissen.
Der rote Pfeil zeigt auf eine Kammer, die uns gehörte, und in der meine Schwester Walli untergebracht war, als sie wegen der ständigen Bombenangriffe auf Berlin mit ihrem Sohn Heinz-Jürgen evakuiert war. Im Oktober 1943 kam dann noch ihre Tochter Renate dazu, die in Meseritz geboren wurde.
Die schmale Tür links führte früher in einen Anbau, an dem sich dann die Holzställe anschlossen. Diese Wohnung mit dem Anbau gehörte zu meiner Kindheit dem Friseur Schechner, davor hatten meine Eltern dort gewohnt. Sie mussten diese Wohnung mit dem Laden nach vorn zur Kirchstraße infolge der Weltwirtschaftskrise aufgeben, weil der Verdienst meines Vaters so schlecht war, dass er in die kleinere Wohnung nach oben ziehen musste. Neue Polstermöbel wurden nicht gekauft, die Reparatur alter Möbel wurde von den Leuten solange hinausgezögert, bis es gar nicht mehr ging.
Von dem Fenster, das sich etwa einen guten Meter darüber befand, konnte man auf das Dach des Anbaus gelangen und dann auf dem der Holzställe ein ganzes Stück entlang laufen. Als mein Spielkamerad Ingo Ebel dort wohnte, haben wir Kinder das ein paar Mal versucht.
Im Januar 1945 versuchte die Rose, Dienstmädchen bei Frau Handke, diesen Ausstieg als Fluchtweg vor den Russen zu benutzen.


Ein Meseritzer Junge erzählt – Walter Kintzel
Kirchstr. 16, Hofansicht (1993)