Lehrermangel, Zwangstaufe und ein Hauch von Anatevka

Text und Fotos: Albrecht Fischer von Mollard, Archiv Heimatgruß

In dem Wochenblatt „Allgemeinen Zeitung des Judenthums“ vom 24. Mai 1858, dessen erste Seite die Titelseite des Heimatgruß Nr. 232 schmückt, wird in einem als „Privatmitteilung“ deklarierten Beitrag über ein Problem in der Provinz Posen berichtet, das an aktuellem Bezug zur heutigen Zeit kaum zu überbieten ist. Es geht um Lehrermangel, den es offenbar auch schon vor mehr als 160 Jahren in Deutschland gab.

Die jüdische Gemeinde meines Heimatstädtchens Tirschtiegel/Trzciel, zu der Zeit „aus etwa 40 bis 50 Familien bestehend“, fand damals schon die beispielgebende Lösung. Sie und andere mehr oder weniger wichtige, zumindest dem Herausgeber erwähnenswert erscheinende Ereignisse aus der Geschichte unserer Heimatregion kann man in dem ungekürzt übernommenen Artikel jener Zeitung nachlesen.


Tirschtiegel vor Ausbruch
des 2. Weltkrieges


Aus dem Posenschen, 16. Mai (Privatmitth.)

In unserer Provinz wird der Mangel an jüdischen Lehrern leider mit jedem Jahre immer größer. Gegenwärtig entbehren mehr als 10 Stellen der Lehrer. In vielen Gemeinden ist aber auch der Gehalt so kärglich zugemessen, daß ein ordentlicher Lehrer sich gar nicht dahin wenden kann, weil er voraussichtlich mit den drückendsten Nahrungssorgen zu kämpfen haben würde. Unter solchen Umständen muß die kleine jüdische Gemeinde zu Tirschtiegel – aus etwa 40 bis 50 Familien bestehend – lobend hervorgehoben werden.
Diese Gemeinde, obgleich vom Himmel nicht allzu reichlich mit Glücksgütern gesegnet, hat dennoch, als im vorigen Jahre die Lehrerstelle bei ihr vacant wurde, den Gehalt für den anzustellenden Lehrer von 140 Thlr. auf 200 Thlr. erhöhet, für eine so kleine unbemittelte Gemeinde gewiß ein großes Opfer.
Deshalb gelang es ihr aber auch, einen tüchtigen Lehrer zu acquirieren, während andere Vacanzen von Seiten der Lehrer unbeachtet bleiben. Mögen doch größere und wohlhabendere Gemeinden diesem schönen Beispiel folgen.
Die Rabbinate in den größeren Gemeinden wie Lissa, Krotoschin, Gnesen, Birnbaum, Wollstein, Rawitz etc. sind noch immer unbesetzt, wiewohl es an geeigneten würdigen Bewerbern gewiß nicht mangelt! Die Gemeinde zu Meseritz hat diese höchst wichtige Stelle, die früher die größten Gelehrten inne hatten, mit einem herumreisenden Chasan, [Wikipedia: Chasan (Kantor), hebräische Bezeichnung für den Vorbeter bzw. Kantor in der Synagoge] dem bekannten Herrn Nochem Streusand, besetzt.
Einen schönen Beweis von aufrichtigem Frieden und wahrhafter Eintracht hat die Gemeinde in Nakel, wo die Mitglieder nach mancherlei Spaltungen seit einem Jahre einig geworden, gegeben, indem sie ihren Rabbiner Herrn Dr. Friedmann, dessen contractlich auf 6 Jahre festgestellte Amtsdauer abgelaufen war, einstimmig wieder gewählt.
Die Gemeinde zu Lissa steht im Begriff, ein Hospital zu erbauen. Die Fonds zu diesem mehr als 5 000 Thlr. veranschlagten Baue werden von einem früheren Gemeindemitgliede, dem jetzt in Triest wohnenden, in der Geschäftswelt rühmlichst bekannten Herrn Joseph Wollheim hergegeben, der außerdem noch einen bedeutenden jährlichen Beitrag zur Unterhaltung des Hospitals ausgesetzt haben soll. Die übrigen Bedürfnisse sind von bemittelten Mitgliedern der Gemeinde durch Zeichnung freiwilliger Beiträge auf mehrere Jahre hinaus gesichert.
Die städtische Behörde hat in wohlwollender Weise einen geeigneten Platz zu diesem Zweck unentgeltlich hergegeben. In Posen wurde vergangene Woche das Kind einer Jüdin, dessen Vater Christ ist, zwangsweise in der Kirche getauft, weil die Eltern freiwillig dazu nicht zu bewegen waren.
Wie sehr viele Judencolonien in Rußland gedeihen, und einige sogar als Muster im ganzen Reiche dastehen, geht aus folgendem Bericht der Posener Zeitung aus Rußland hervor: Im Gouvernement Cherson, 5 Meilen von Nikolajef, liegt, umgeben von wohlbestellten Getreidefeldern und üppigen Wiesen, das Dorf Jese Nahr. Juden waren die Erbauer und ausschließlich Juden – gegenwärtig 50 Familien – bewohnen es.
In der Nachbarschaft befinden sich noch 6 andere kleinere Dörfer, die unter dem Namen hebräischer bekannt und gleichfalls von Juden bewohnt sind. Alle sind sie treffliche Landwirthe und man trifft selbst Künstler und sehr geschickte Handwerker unter ihnen an. Diese haben jetzt den Bau einer Synagoge unternommen.
Ihr Dasein und ihren blühenden Wohlstand verdankt die ganze Colonie dem Juden Nahum Funkelstern, ihrem Vorsteher. Obwohl er sehr reich ist, so erzieht er doch seine Kinder unter den Mühen und Entbehrungen fleißiger Arbeiter.