ZEITZEUGENBERICHTE
Erinnerungen aus dem Jahre 1945

Hildegard Wittchen, Kulkau


Hildegard Wittchen aus Kulkau/Erkelenz schickte uns das 23 Seiten umfassende Original ihrer „Erinnerungen aus dem Jahre 1945“, ein leicht vergilbtes, schulheftgroßes, mit einer manuellen Fadenbindung zusammengehaltenes, handschriftlich verfasstes Dokument.
Wir haben den erschütternden Text ungekürzt übernommen. Er schildert eindrucksvoll die dramatischen Erlebnisse eines damals sechzehnjährigen Mädchens in den Monaten vor und nach Ende des Krieges, dessen Beginn sich zum 80. Mal gejährt hat.
Wie es ihr in den Jahren nach 1945 erging, berichtet die Verfasserin in ihrem Begleitbrief, den wir wegen der Chronologie an das Ende ihres Zeitzeugenberichtes gestellt haben.
A.F.v.M.



Der Krieg im Heimatgebiet
Die ersten Januartage verliefen noch recht ruhig. Der Wehrmachtbericht meldete von Kämpfen in Ostpreußen, Polen und in Oberschlesien. Am Sonntag, den 21. Jan. 1945 war Meseritz in heller Aufregung. Seitwärts Posen waren die Russen vorgestoßen. In Meseritz wurden die Koffer gepackt und alles für die Flucht bereitgehalten. Am Montag war es ruhiger, da die Russen zurückgestossen wurden. Der Bahnhof war jedoch mit Flüchtlingen überfüllt. Der Januar war um diese Zeit hart und kalt. Viele der armen Menschen haben ihre erfrorenen Kinder irgendwo begraben müssen.
Am Abend des 24. Jan. fuhren russische Panzer bei Tirschtiegel über die Grenze. Sie wurden abgeschossen. In der Nacht wurde der Volkssturm eingezogen. Unter den Männern war der Vater.
Am Donnerstag, den 25. Jan., sah Meseritz aus wie eine Frontstadt. Die Leute waren geflüchtet, die Straßen waren vollgestopft mit den Gespannen der Flüchtlinge. Geschütze wurden ausgeladen und fuhren zur Front. Es war kaum durch all den Verkehr hindurchzukommen. Als wir nach Hause kamen lagen in unserem Haus zwölf Volkssturmmänner einquartiert, unter ihnen mein Vater. Da gab es alle Hände voll zu tun. Wir hatten keine Zeit, an den Krieg zu denken.
Am Sonntag, 28. Jan., hörte man deutlich Maschinengewehre schießen. Am Abend bekam der Volkssturm Großalarm. Das Schießen von der Front kam immer näher und wurde immer lauter und deutlicher. In Scharzig brannte bereits eine Scheune. »Wachet und betet, heute noch können die Russen bei euch sein« hatte der Vater gesagt, als er Abschied nahm.
Eine bekannte Familie, die man vom Hof vertrieben hatte, besuchte uns. Der Mond schien hell. Noch am gleichen Abend fuhr die Familie wieder nach dem Hof zurück. Nach Mitternacht ließ das Schießen nach. Da wir müde waren, legten wir uns zur Ruhe nieder. Nur die Mutter blieb ein wenig länger auf.

Am Morgen des 29. Januar erwachten wir mit der Frage: Wo ist der Vater geblieben? Wohin ging der Volkssturm in der Nacht? Einige Leute munkelten, er sei nach Schönfelde abgerückt. Sofort schickten wir nach Schönfelde herüber, um erkunden zu lassen, ob das stimme. In Schönfelde waren Volkssturmmänner. Doch ob mein Vater unter ihnen war, wusste niemand zu sagen.
Im Laufe des Tages wurde das Schießen wieder heftiger und wuchs zum Abend immer stärker an. Ungefähr gegen acht Uhr kamen zwei deutsche Soldaten in Schneehemden zu uns und verlangten eine kleine Stärkung. Nach vielem Fragen gestanden sie endlich, daß sie von Betsche kommen und daß die Russen schon in die Stadt eingedrungen sind. Auf unsere Frage, warum sie nicht an der Front blieben, erklärten sie uns, daß die Russen einen Kessel bilden und sie den Befehl haben, sich abzusetzen.
Wir wussten nun, woran wir waren, zogen uns mehrere Sachen und die besten Kleider an, in die Manteltaschen steckten wir Rosenkranz und Sterbekreuz. Dann benachrichtigten wir Oma und Tante Hedwig, die Leute bekamen Bescheid von der Lage der Dinge. Gemeinsam packten wir unsere Sachen in Koffer, Körbe und Kisten und verstauten alles im Keller. Dann setzten wir uns in die große Stube um den Ofen. Lange hielt ich es nicht aus. Ich stand auf und wanderte in der Stube auf und ab.

Als wir wieder einmal zur Tür hinaussahen, bekamen wir einen großen Schrecken. An allen vier Himmelsrichtungen sahen wir große Brände. Der Himmel war über und über rot und durch den Himmel flogen die Leuchtkugeln. Schaurig sah diese Nacht aus. Doch immer wieder öffnete ich die Tür und sah hinaus in diese traurige Nacht. Dann klopfte der Lehrer an die Tür und meldete, daß es Zeit sei zu flüchten. Nun fuhr eine Familie nach der anderen aus dem Dorf hinaus.
Nun kamen immer wieder deutsche Soldaten zu uns, sie baten um eine Stärkung für sich oder für ihre Pferde. Sie ruhten ein wenig aus  und dann waren wir wieder allein. Annemarie war so müde geworden, daß sie nicht mehr ihre Augen aufbehalten konnte. Wir legten sie auf das Sofa und sie schlief bald ein. Wir anderen saßen schweigend. Nur das tak-tak der Maschinengewehre hielt uns wach.
Dann folgten zwei dumpfe Schläge kurz hintereinander. Die Fensterscheiben klirrten und Annemarie schreckte weinend aus dem Schlafe empor. Wir hatten sie jedoch bald wieder beruhigt, denn nur die Brücken waren in die Luft gesprengt worden. Gegen drei Uhr kamen noch einmal fünf deutsche Soldaten zur Hintertür herein. Sie waren froh, dem Tod entgangen zu sein. Die Angst und den Schrecken, den sie in den letzten Minuten ausgestanden haben, konnte man ihnen noch von den Augen absehen. Sie hatten die Absicht, sich noch einmal aus dem Kessel herauszuarbeiten, der längst schon geschlossen war. Einer der Soldaten war verwundet, das Blut lief ihm am Hosenbein herab.Um halb vier Uhr klopfte es das letzte Mal an der geschlossenen Haustür. Als die Mutter öffnete, standen zwei Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett vor ihr. Mutter konnte ihre Sprache nicht verstehen und nötigte sie in die Stube. Hier unterhielten sie sich mit unseren Polen. Wir bewirteten sie mit Kaffee und Pfefferkuchen. Sie gingen bald weiter.

Einige Minuten später hatten wir die ganze Stube voller russischer Soldaten. Es waren meistens Offiziere. Sie waren wirklich gut zu uns. Als der Morgen dämmerte, zogen sie weiter. Nun kamen neue Soldaten, auch sie zogen weiter. Als der dritte Schub kam, mußten unsere Polen weg. Sie blieben neun Tage in unserem Hause. Am zweiten Tag der Russenherrschaft kam nun endlich unser Vater nach Hause zurück. Wie hatten wir für ihn gebetet! Er erzählte uns auch, daß er besonderes Glück auf der Flucht gehabt hätte.
Die Russen, die bei uns einquartiert waren, waren auch sehr nett zu ihm. Er bekam Rauchware und Schnaps, so viel er nur wollte. Sie schenkten uns Brot und hatten für uns ein Schweinchen geschlachtet. Als sie jedoch weiterzogen, begann auch für uns die Not. Solange hatte auf unserem Hof eine Wache gestanden. Kein fremder Soldat durfte auf den Hof heraufkommen. Konnten auch wir uns nicht vom Hof herunterwagen, so hatten wir doch wenigstens unsere Ruhe. Jetzt jedoch waren wir schutzlos allen Soldaten ausgeliefert.
Viele Russen waren des Kampfes müde. Hinter der Front trieben sie sich herum und ernährten sich vom Rauben und Plündern. Acht Soldaten kamen auch in unser Dorf. Um ihre Lust befriedigen zu können, suchten sie sich junge Mädchen, an denen sie all ihre Bosheit auslassen konnten. Dies waren die schlimmsten Tage die wir erlebten. Von dem Tag an ließ ich mich nie mehr sehen und versteckte mich auf dem Heuboden. Am 19. Februar wurde der Vater verschleppt. Drei Wochen später nahmen die Russen den Bruder mit. Jeder Tag begann mit neuer Angst. Alle Nachbardörfer hatten Einquartierungen. Die Soldaten kamen nun auch nach Kulkau, um sich in unserem Dorf auszutoben. Sie raubten und plünderten und vergewaltigten Frauen und Mädchen.

Da sie in den Gebäuden nach versteckten Sachen suchten, waren wir zu Hause nicht mehr sicher. Nun nahmen wir unsere Zuflucht zu den Wäldern. Anfangs blieben wir noch in der Nähe des Dorfes, später jedoch wanderten wir Tag für Tag drei Kilometer weit. Bei Nacht schliefen wir noch in unseren Betten. Alle anderen Mädchen gingen gar nicht mehr nach Hause. Sobald sie aus dem Wald kamen, flüchteten sie sich in die Scheune. Angehörige erzählten ihnen, wie die Russen am Tage wieder gehaust hätten. Am nächsten Morgen wanderten sie, nachdem sie ihr Frühstück und etwas Wegzehrung empfangen hatten, wieder los. So ging es etwa vier Wochen lang. Dann wurde unser Nachbardorf umquartiert.
Da wir jetzt auf unserem Hof über vierzig Personen waren, getrauten sich die Russen nicht mehr so herauf. Doch auch jetzt erlebten wir noch manche schlimme Nacht, bis wir endlich kurz vor Ostern Kommandantur bekamen. Nun hatten wir doch wenigstens Tag und Nacht unsere Ruhe.Jetzt ging es nun an die Feldarbeiten. Aus den anderen Dörfern wurden etwa um diese Zeit die Mädels von den Russen verschleppt. Da die Mutter uns schützen wollte, gab sie uns beide Ältesten zu zwei befreundeten Familien, die sich als Polen ausgegeben hatten.

Es war kurz nach Ostern, als ich zu Hankes, so hieß die Familie, kam. Dort blieb ich bis zum 23. Juni und kam nur sonntags auf einige Stunden nach Hause. Alle anderen Männer und Frauen arbeiteten auf dem Felde. Kinder, von zehn Jahren aufwärts wurden zur Arbeit herangezogen. Vom Kriegsgeschehen hörten wir so gut wie gar nichts. Im Mai endlich erfuhren wir, daß Waffenstillstand sei. In unserem Leben änderte sich trotzdem so gut wie gar nichts. Vom Bürgermeister bekamen wir schließlich die Erlaubnis, nach Meseritz gehen zu dürfen. Auch erhielten wir in unserem Dorf bereits eine ordentliche Verpflegung. So lebten wir nun eigentlich schon recht zufrieden mit unserem Schicksal.

Von den Polen vertrieben
Am 23. Juni überraschte uns eine neue Nachricht. Ich schälte gerade Kartoffeln, als polnische Soldaten in unser Dorf kamen. Dann wurden die Kälber getränkt und dann bat ich meine Frau, nach Hause gehen zu dürfen, da ich mich krank fühlte. Soeben wollte ich mich in das Bett legen, als der Befehl zum Räumen kam. In zwei Stunden, hieß es, müsst ihr das Dorf verlassen haben.
Die Mutter konnte das nicht glauben und erkundigte sich nochmal selbst beim Bürgermeister. Dann ging es an das Einpacken. Was wir in der Eile greifen konnten, das nahmen wir mit. Das Geld ließen wir unterm Küchenschrank liegen. Der Wagen, in den wir die Eßware gepackt hatten, brach schon auf dem Hof zusammen. Endlich kamen wir dann doch alle glücklich aus dem Dorf heraus. Da ich an diesem Tag Fieber hatte, durfte ich auf dem Wagen bis Kalzig mitfahren. In K. blieben wir eine Nacht.
In dieser Nacht hausten die Polen wieder furchtbar. An ein Schlafen war kaum zu denken. Ich hatte außerdem hohes Fieber und fühlte mich sehr schwach. Nach dieser aufregenden Nacht gingen wir von Kalzig nach Meseritz.
Als wir von K. aufbrachen, wurden zunächst unsere Sachen kontrolliert, d. h., von jedem Wagen nahmen die Polen etwas herab. Uns nahmen sie bei der Gelegenheit drei Koffer ab, in denen wir all unsere Sachen verpackt hatten. Unter uns war eine Frau, die vor zwei Tagen entbunden hatte. Sie mußte mit uns den gleichen Weg von Kulkau nach Frankfurt/O. zurücklegen. Den Kinderwagen schob ihr eine andere Frau aus dem Dorf.

In Meseritz wurden von verschiedenen Orten die Leute gesammelt. Von Meseritz wanderten wir noch am gleichen Tage nach Pieske. Da ich nicht mehr weiter gehen konnte, durfte ich wieder ein Stück lang auf dem Wagen fahren. Wie froh waren wir, als wir endlich das Piesker Lager erreichten. Hier sollten wir in der Nacht schlafen.
Am nächsten Morgen wurden wir um halb zwei Uhr geweckt. Der Mond stand noch hoch am Himmel, als wir uns zum Weitermarschieren sammeln mussten. Doch bald stieg die Sonne am blauen Himmel empor. Glühend heiß brannten ihre Strahlen auf der staubigen Landstraße. Schritt für Schritt rangen wir der Straße ab. Überall, wo wir Wasser entdecken konnten, füllten wir unsere Kannen. Gegen Mittag durften wir endlich ein wenig ruhen. Dann ging es wieder weiter. Die Sonne brannte unbarmherzig.
Hinter Zielenzig endlich machten wir halt. Hier kochten wir uns ein kleines Abendbrot. Wir hatten schon die Decken ausgebreitet, als es hieß: »Es geht gleich wieder weiter!« Die Hitze hatte uns so schlapp gemacht, daß wir nicht mehr mitmachen wollten. Doch alles Sträuben half ja doch nichts. Wir gingen noch etwa 2 km weit und übernachteten dann auf freiem Felde. Wir hatten uns die Mäntel angezogen und uns in Decken eingewickelt. Doch so warm es am Tage auch war, so kalt war es auch in der Nacht. Außerdem besuchten uns die Russen in der Nacht. Unsere Posten gaben einige Schüsse ab und verletzten ein Mädchen.
Unsere Decken waren bald durchnässt, wir standen auf und wärmten uns am Feuer, das sich einige Leute angezündet hatten. Dann aßen wir noch etwas Brot. Kaffee wurde wenig getrunken, da der Kaffee meistens verräuchert schmeckte. So tranken wir fast immer Wasser. Am nächsten Tag war es wieder sehr warm. Wir gingen jedoch nur 20 km weiter und standen dann stundenlang auf der Chaussee. Unsere Führer hatten sich im Dorf betrunken und kümmerten sich nicht mehr um uns. Gegen Abend führte man uns schließlich auf ein Feld, wo wir übernachten sollten. Doch weit und breit war kein Wasser aufzutreiben. Wir mussten erst einige Kilometer nach Wasser gehen, damit wir uns wenigstens ein paar Kartoffeln kochen konnten. Der Abend war sehr schön und milde. Wir hofften, daß diese Nacht besser werden würde, als die vergangene. Bis nach Mitternacht schliefen wir auch recht gut. Dann jedoch zog ein Gewitter nach dem anderen auf. Es regnete in Strömen. Wir packten schnell die Betten zusammen, nahmen uns die Decken um und setzten uns unter einen Strauch, der am Wege stand.
Der Tag war schon angebrochen, und es regnete immer noch sehr stark. Dann brachen wir doch auf und zogen an dem Tag etwa 4 km weiter. Hier blieben wir den ganzen Tag lang.

Endlich, endlich durften wir uns etwas von den Strapazen ausruhen. Hier störte uns niemand. Am nächsten Morgen sollte es über die Oder gehen. Unser Gepäck war von dem Regen so schwer geworden, daß wir es kaum weiterbringen konnten. Es regnete wieder den ganzen Tag hindurch. Am Nachmittag hatten wir endlich die Oder erreicht. Auf der Oderbrücke räuberten die Polen und die Russen noch einmal, und dann ließen sie uns allein. Hinter der Brücke kamen wir in einen großen Lehmmoder. Bis an die Knie gerieten wir in den Pansch hinein. Wir brauchten wohl zwei Stunden bis wir endlich 1 - 2 km zurückgelegt hatten. Dann blieben wir in einem Haus, das am Wege stand, über Nacht.
Hunderte von Menschen hausten in diesem kleinen Häuschen. An ein Schlafen war nicht zu denken, kaum dass wir ein Plätzchen fanden, wo wir wenigstens sitzen konnten. Am nächsten Tag treckten wir weiter in Richtung Lebus. Hier waren jedoch alle Häuser entzwei gehauen und alles war überfüllt. Schließlich entdeckten wir noch ein Zimmer. In diesem Zimmer hatten die Russen wieder ganze Arbeit geleistet. Wir räumten wenigstens so viel auf, daß wir unser Gepäck hier unterstellen konnten. Den ganzen Weg war ich tapfer mitgelaufen. Doch jetzt war es mit meiner Kraft zu Ende. Ich hatte wieder Fieber bekommen. Auch Tante Hedwig war krank geworden.
So mußten wir drei Tage in Lebus liegen bleiben, ehe wir nach Frankfurt weiter ziehen konnten In Frankfurt/Oder blieben wir wieder zwei Tage lang. Den ganzen Tag lang mußten wir auf dem Bahnhof in Frankfurt warten, als endlich am Abend der Güterzug fuhr. Wir reisten die ganze Nacht hindurch und stiegen am nächsten Morgen in Rummelsdorf aus.

Dann liefen wir bis Lichtenberg/Berlin. Hier fanden wir in einem Lager ein Unterkommen. Die Verpflegung war sehr schlecht. Morgens gab es eine Tasse Kaffee, und mittags bekamen wir einen halben Liter Grützsuppe und 100 g Brot. Damit mussten wir den ganzen Tag auskommen. Am Nachmittag durften wir uns noch einmal Kaffee oder Tee holen. Wir waren hier schon alle sehr schwach; deshalb mussten wir 8 Tage lang in dem Lager bleiben. Wie froh waren wir, als wir dann endlich weiter konnten!
Auf dem Lehrter Bahnhof mußten wir noch einmal unter freiem Himmel übernachten. Am nächsten Tage fuhren wir aus Berlin heraus.Wir hatten uns einem Treck angeschlossen, der mit uns das gleiche Reiseziel hatte. Als wir jedoch in Neustadt(Dosse) ankamen und nach Neuruppin geleitet werden sollten, sagte man uns: Neuruppin ist überfüllt.
Bis zum späten Nachmittag fuhren wir; den ganzen Tag erhielten wir keine Verpflegung. Endlich machten wir in Mecklenburg halt. Hier in Mecklenburg stiegen wir aus und bettelten uns bei den Einwohnern ein paar Kartoffeln. Wie freuten wir uns, daß wir nun wiedermal eine Kartoffelsuppe essen konnten. Wir hatten die Erlaubnis bekommen, Johannisbeeren pflücken zu dürfen. Mutter hatte ein paar Kirschen zu kaufen bekommen und Oma erhielt einen Kohlkopf geschenkt.
So lebten wir, nach unserer Meinung, «wie die Made im Speck». In der Nacht schliefen wir wieder im Freien. Die alten Leute und die Kinder durften im Zug übernachten. Wir suchten uns ein schönes ruhiges Plätzchen, wo wir unser Lager zurecht machten. In der Nacht jedoch fing es furchtbar an zu regnen. Wir mussten also schleunigst unsere Decken zusammenpacken und uns in unseren Bahnwagen flüchten, wo es ohnehin schon sehr eng war. Auch in dieser Nacht war an ein Schlafen nicht zu denken.

Am nächsten Morgen fuhren wir wieder nach Neustadt/Dosse zurück. Wir wollten noch einmal versuchen nach Neuruppin zu gelangen. Wieder sagte man uns, was wir schon am Vortag hörten: Neuruppin nimmt keine Flüchtlinge auf. Nun standen wir wieder den ganzen Tag lang in Neustadt auf dem Bahnhof. Hier mußten wir unser Gepäck in Güterwagen umladen, für die Leute wurden Personenwagen zur Verfügung gestellt. Wenn wir auch in dieser Nacht kaum schlafen konnten, so war es trotzdem gemütlicher als in der letzten Nacht, da wir diesmal im Zug übernachten durften.

Am nächsten Morgen fuhren wir endlich weiter nach Kyritz. Hier war nun unsere erste Sorge: wo bekommen wir etwas Nahrung her? Solange wir auf der Bahn lagen, haben wir keinerlei Verpflegung erhalten. Jetzt wanderten wir zunächst zum Stadtgarten. Weil wir jedoch spät ankamen, konnten wir keine Suppe mehr bekommen.
Der nächste Tag war ein Sonntag. An dem Tag gingen wir auf Arbeitssuche. Es waren jedoch alle Stellen besetzt. Ganz niedergeschlagen kehrten wir am Abend zum Lager zurück. Am nächsten Tage bettelten wir in Rehfeld und in anderen Dörfern um Arbeit und Unterkunft. Wieder wurden wir abgewiesen. Ach, es war manchmal zum Verzweifeln!
Wie viele arme Flüchtlinge haben sich selbst das Leben genommen. Am dritten Tag fanden wir nun endlich Arbeit und Unterkunft bei einem Bauern. Wir freuten uns sehr, daß jetzt endlich das uns so sehr verhaßte Lagerleben aufhören sollte.
Die Ernte hatte begonnen und es gab hier für uns genügend Arbeit.Doch kaum waren wir eine Woche hier, da brach das Unglück von neuem über uns herein. Ich hatte mich den ganzen Tag über nicht wohl gefühlt. Am Nachmittag waren wir beide, meine Schwester und ich, in den Wald gegangen, Pilze zu suchen. Als ich zurück kam konnte ich meine Beine kaum vorwärtsbringen, so schlapp waren sie geworden. Ich glaubte, es käme noch von der Reise und legte mich in das Bett. Am Abend hatte ich fast 41° Fieber .
Da es am nächsten Tage nicht besser wurde und ich furchtbar phantasierte, rief meine Mutter den Arzt. Es besserte sich jedoch nichts an meiner Lage. Ich lag Tag und Nacht in hohem Fieber. Der Mutter wurde es bei meinen Phantasien recht bange.
Acht Tage später wurde nun sogar noch meine Schwester krank. Bei ihr war das Fieber nicht so hoch wie bei mir. Sie klagte jedoch über große Schmerzen. Wieder wurde der Arzt gerufen. Wir waren beide stark typhusverdächtig und sollten in das Krankenhaus gebracht werden. Das Krankenhaus war jedoch schon überfüllt und konnte keine Patienten mehr aufnehmen.

Wir mußten beide noch eine Woche zu Hause liegen. Dann fing endlich das Fieber bei mir an zu fallen, auch meiner Schwester wurde es ein wenig besser. Nach drei weiteren Wochen waren wir endlich wieder so weit, daß wir uns auf den Füssen halten konnten. Die Heuernte hatte bereits begonnen. Ich ging bald mit auf das Feld und erholte mich wieder so langsam. Wir hatten viele Äpfel gegessen; denn Fett gab es damals gar nicht, und in der Kartoffelernte standen wir wieder fest auf den Füssen. Jetzt mußten wir unsere Wohnung beim Bauern abgeben, da das Quartieramt eine andere Bauernfamilie hineinsetzen wollte. Uns wurde ein Zimmer in der Stadt zugewiesen.
Im November betraf uns ein neuer Trauerfall. Am 4. Nov. starb Tante Hedwig im hiesigen Krankenhaus. Einige Tage später trat ich meine Stelle auf dem kath. Pfarramt an. Im Dezember endlich meldeten sich zwei nahe Verwandte aus dem Westen. War das eine Freude, als wir die Briefe öffneten! Die Großmutter jedoch, die in Heinrichsfelde wohnte, hat die Nachricht von dem Aufenthalt ihrer Tochter nicht mehr erreicht. Als Mutter ihr am 12. Dez. die Briefe bringen wollte, lag die Oma bereits im Sterben. Das Leben wurde immer leerer, immer trauriger. Zwei nahe Verwandte haben wir binnen fünf Wochen zu Grabe tragen müssen und von den nächsten Angehörigen hatten wir immer noch keine Nachricht.Wir trafen nun schon einige kleine Vorbereitungen auf das Weihnachtsfest.
Das Christkind war ja auch zu den ärmsten Menschen gekommen, so wollten auch wir, die wir jetzt doch wirklich arm waren, dieses schöne Fest feiern.Traurig begann das Jahr 1945, traurig war auch das Ende dieses bösen Jahres. Vielleicht war es das Schwerste, daß wir haben durchleben müssen. Einen unerschütterlichen Glauben und eine felsenfeste Hoffnung haben wir uns jedoch in das neue Jahr hinübergerettet.

«Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei. Nach jedem Dezember folgt wieder ein Mai.» Sollte das für uns nicht zutreffen???.


An dieser Stelle enden die handschriftlichen Aufzeichnungen der heute fast 91-jährigen Zeitzeugin Hildegard Wittchen aus Kulkau/Erkelenz. Ihren weiteren Lebensweg hat sie in einem handschriftlichen Begleitbrief zusammenfassend dargestellt:

.
27.09.2019
Sehr geehrter Herr Fischer von Mollard!
IIm Heimatgruß Nr. 230 wünschen Sie sich Erinnerungen von Zeitzeugen aus den letzten Kriegstagen und später.
Die beiliegende Kladde habe ich noch gefunden. Warum ich nach 1945 nicht weitergeschrieben habe, weiß ich nicht mehr, so endet es mit Weihnachten 1945. Das Weihnachtsfest hat uns damals doch noch einen Lichtblick eröffnet: Einen Tag vor dem Fest erfuhren wir, daß unser Bruder, der Bruno, noch lebt.

Unser Raum, der uns in Kyritz zugewiesen wurde (Anmerkung: vorletzte Seite der Kladde) war der Prozessionsgang eines ehemaligen Klosters mit mehreren Nischen. In den Nischen hatten 2 Betten Platz (für 4 Pers.). Die dicken Klostermauern hielten die große Kälte ab und nebenan gab es eine Küche. Etwas Winterkleidung hatten wir geschenkt bekommen, einige Lebensmittel auch.

Eines Tages, im Sommer 1946 stand Bruno vor der Tür. Der Kontakt war über eine bekannte Familie Draber aus Solben zustande gekommen. Familie Draber wurde nicht vertrieben, weil Tante Lilchen so nannten wir Kinder Frau Draber (eine entfernte Verwandte meiner Mutter) polnischer Abstammung war und die polnische Sprache beherrschte. Meinen Bruder hatten die Russen in Polen zurückgelassen, wohl wegen seines Alters, 15 Jahre. Er hatte einen Arbeitsplatz bei einem Abdecker zugewiesen bekommen. Von dort flüchtete er zu einer bekannten Familie nach Dobrowo [bis 1945 Dubberow, Kr. Belgard/Hinterpommern - die Red.].

In Dobrowo konnte er nicht bleiben, weil das Risiko für die Familie zu groß war. Der damalige Besitzer war ein Vetter meines Großvaters, auch ein Wittchen, hatte aber den Namen ins polnische übersetzt. Die jungen Leute ermöglichten ihm eines Nachts die Flucht. In Kyritz arbeitete Bruno zunächst bei einem Bauern, aber auch hier wurde ihm der Boden zu heiß, weil er die Nachforschungen der Polen befürchtete. Also wieder Flucht, diesmal zu Fuß nach Lengerich (Westf.). In Lengerich hatte Onkel Witold, ein Bruder meines Vaters, eine Arztpraxis. Ein nächstes Zuhause fand Bruno dann in Riesenbeck.

Ich hatte inzwischen eine Gärtnerlehre bei den Ursulinen in Neustadt (Dosse) angefangen. Sie hatten ihren Stammsitz in Beeskau. Leider konnte ich diese schöne Zeit nicht lange durchhalten. Meine angeschlagene Gesundheit und ungenügende Verpflegung hatten meine Körperkräfte weiter geschwächt.

Meine Anträge auf Ausreise nach Lengerich wurden immer wieder abgelehnt. Als ich dann nur noch 25 kg wog (ich war 20 Jahre alt) durfte ich endlich die DDR verlassen; sie hofften. daß ich nicht lebend ankomme. Die Reise habe ich geschafft, bin dann aber auf dem Bahnsteig in Lengerich liegen geblieben. Der Bahnhofsvorsteher rief meinen Onkel an, der mich dann auf seinen Armen wegtrug.

Gefährdet in der DDR war noch meine jüngste Schwester. Sie hatte nach Schulabschluß eine Stelle in der Notenbank gefunden. Die Arbeiter in staatlichen Einrichtungen mußten sich verpflichten, an Schulungen und politischen Veranstaltungen teilzunehmen. Annemarie fiel durch ihre Zurückhaltung auf und wurde von ihren Arbeitskollegen gewarnt, daß sie sich ändern müsse.

Meine Mutter und Annemarie wohnten noch in der Klosterwohnung. Mutter war inzwischen arbeitsunfähig geworden und durfte im Rahmen der Familienzusammenführung zu ihrem Sohn nach Riesenbeck ausreisen. Annemarie hatte Urlaub bekommen, um die Mutter zu unterstützen. Als die Nachricht vom guten Ankommen der Mutter eintraf, gelang es ihr, mit wenig Handgepäck ein Lager in Westberlin zu erreichen. Sie wurde schon am nächsten Tag nach Stolberg/Rhld. ausgeflogen. Eine andere Schwester, die auch in Neustadt/Dosse bei den Ursulinen arbeitete, konnte nach Berlin/Zehlendorf fahren, auch dort hatten die Ursulinen eine Niederlassung. So ist noch alles zu einem guten Ende gekommen.

Herr Fischer von Mollard, dies sind meine Erinnerungen aus der Nachkriegszeit. Es hat viele Jahre gedauert bis Familienmitglieder ein Zuhause gefunden haben.
Ich hoffe, daß Sie meine Schrift noch enträtseln können.

Ihre Hildegard Wittchen




Mit Briefen und Bildern wollen wir im an die Zeit vor ca. 80 Jahren erinnern, eine Zeit, in der wir noch Kinder waren. Sie dürfen nach so langer Zeit mit Zustimmung ihrer Schreiber und Empfänger, mit gebührender Achtung und im Interesse unserer Geschichte veröffentlicht werden. Durch ihre Nähe zu den Ereignissen sind sie für uns unübertroffene Zeitzeugen. Wir danken unseren Heimatfreunden dafür, daß sie uns ihre wertvollen Zeitzeugnisse zur Verfügung stellen.