Der 1. September 1939 in Tirschtiegel

Text und Fotos: A. F. v. Mollard, Archiv Heimatgruß

Ich bin Jahrgang 1932. Seit September 1937 wohnten wir, meine Eltern und ich, im deutschen Zollhaus an der Grenze in Tirschtiegel/Trzciel. Am 1. September 1939 wurde ich in meinem Kinderzimmer durch einen lauten Knall geweckt und rief nach meinen Eltern. Sie waren am Flurfenster und blickten auf die Straße. Vor „unserem Haus“, dem deutschen Zollhaus, stand eine kleine Kanone und schoß direkt diagonal über die Straße in das polnische Zollhaus in das dortige Schlafzimmer. Hätten die Polen in gleicher Weise zurückgeschossen, würde ich nicht mehr leben. Daher feiere ich am 1. September in Gedanken immer meinen zweiten Geburtstag.


Der 1. September 1939 in Tirschtiegel

Der 1. September 1939 in Tirschtiegel


Vor und nach dem 1. September 1939 in Tirschtiegel
Nicht ganz so dramatische „Erinnerungssplitter“ zum 80. Jahrestag des Kriegsbeginns erhielt ich von meiner Schwester Brunfriede, vielen Heimatfreunden noch als langjährige HGr-Schriftleitung bekannt. Sie war bei Kriegsbeginn etwa 9 1/2 Jahre alt und wie viele andere Heimatfreunde Zeitzeugin der Geschehnisse an der deutsch-polnischen Grenze in Tirschtiegel vor und nach dem 1. September 1939.
Für meine Geschwister– ich selbst kam erst 2 Jahre später als echtes „Kriegskind“ auf die Welt – begannen die deutschen Kriegsvorbereitungen mit einer räumlichen Trennung von den Eltern: In seiner Fürsorge hatte mein Vater sie – Vorsicht ist bekanntlich die Mutter der Porzellankiste – kurz vor Beginn des Einmarsches in Polen in ein sicheres Quartier nach Marienhof bei Sieversdorf, etwa 10 km westlich von Frankfurt/Oder gebracht.
Hier hatte er in der zweiten Hälfte der 1920- er Jahre beim Grafen v. Bredow seine landwirtschaftliche Ausbildung erhalten. Diese Gegend schien ihm buchstäblich weit genug entfernt vom Schuß, um die Unversehrtheit seiner Lieben sicherzustellen. Mit Anni, dem 1933 als Erzieherin engagierten Kindermädchen wußte er die 5 seiner zu diesem Zeitpunkt insgesamt 6 Kinder dort gut aufgehoben. Meine jüngste, im April 1939 geborene Schwester blieb bei meiner Mutter in Tirschtiegel.
Brunfriede erinnert sich noch ziemlich genau an die wenig herrschaftliche Unterkunft: Eine überdachte Treppe führte zum nur karg möblierten Dachboden über einem leeren Schweinestall.
Von klein an mit Tieren aufgewachsen, scheute sie sich damals nicht - so erzählt sie zumindest heute - eine Ratte, die eben in einem Loch verschwinden wollte, am Schwanz festzuhalten, und war erstaunt über die Kraft, die ein Nagetier in dieser Situation aufzubringen im Stande ist.
Nach längstens 2-wöchiger Ausquartierung hatte sich jedoch die militärische Lage soweit zugunsten der Wehrmacht gefestigt, daß die Rückkehr der Geschwister nach Schloß Tirschtiegel gefahrlos möglich schien und vollzogen wurde.
Brunfriede, schon damals ein Pferdenarr, der sie bis auf den heutigen Tag geblieben ist, kann sich noch genau erinnern, daß vor dem 1. September 1939 auf dem Gutshof am Schloß in den Jungviehställen, die während der Sommermonate üblicherweise leer standen, weil das Vieh auch nachts draußen auf der Weide blieb, Militärpferde untergebracht waren und dort von Soldaten versorgt wurden.

Es waren Zugpferde für die Geschütze der in Bereitschaftsstellungen wartenden Wehrmacht. „Aber Kanonen selbst waren nicht auf dem Hof!“ ergänzt sie ihre Aussage. „Es kann natürlich sein, daß diese in den mir nicht zugänglichen Hofgebäuden abgestellt waren - das weiß ich nicht!“ Nach dem Einmarsch in Polen – sicherlich erst Monate oder gar Jahre später, nachdem sich die Lage an der Grenze stabilisiert und normali-siert hatte – hatte sie ein regelrechtes „Schlüsselerlebnis“, wie sie es heute nennt.
„Komm mit! Ich habe zwei Pferde gekauft, die wollen wir jetzt abholen!“ So etwa hatte mein Vater damals zu ihr gesprochen. Mit einer Kutsche, einem Einspänner, ging es in flottem Trab vom Schloß durch die Obrawiesen und über die Obrabrücke, vorbei an der katholischen Kirche ortsauswärts zum Grenzübergang - der jedoch keiner mehr war. Die bis Kriegsbeginn stets geschlossenen Zollschranken ragten jetzt steil in den Himmel und boten keinen Grund mehr für den zuvor notwendigen Zwangshalt am Zollhaus. Nach Kriegsbeginn waren die Zollschranken am Grenzübergang in Tirschtiegel offen.
Diese für sie völlig neue Erfahrung der freien Durchfahrt war ein unvergeßliches Erlebnis, das ihr noch nach 80 Jahren präsent ist. Sie weiß zwar nicht mehr, wo unser Vater mit ihr die beiden Pferde abholte, jedenfalls wurden sie hinten an der Kutsche festgebunden und dann ging es zurück zum Schloß – ohne irgendwelche Grenz- und Zollformalitäten. Die neuen Pferde hießen übrigens „Falke“ und „Segler“, waren sog. Apfelschimmel und wurden als Kutschpferde eingesetzt.


Der 1. September 1939 in Tirschtiegel
Aus Erzählungen weiß ich, daß es neben der eingangs geschilderten Ausquartierung der Geschwister zu Beginn des Krieges im Schloß auch eine sog. Einquartierung gab, eine Gruppe von Wehrmachtsoffizieren, denen im Rahmen der Kriegsvorbereitungen eine Unterkunft in meinem Elternhaus auf Schloß Tirschtiegel zugewiesen worden war.
Vermutlich belegten sie die sog. Leutnantswohnung, ein kleines, abgeschlossenes Domizil mit eigener Küche im Obergeschoß des Gebäudes. In ihr hatten meine Eltern nach ihrer Heirat 1929 bis zum Tode meines Großvaters im Jahre 1931 gewohnt. Später wurden die relativ beengten Räumlichkeiten der Leutnantswohnung in eine Art Gästeapartment oder Gästezimmer umfunktioniert bzw. umgebaut.


Der 1. September 1939 in TirschtiegelDie Einquartierung im Schloß hatte sich vor 80 Jahren jedenfalls für ihre vergleichsweise komfortable Unterbringung durchaus erkenntlich gezeigt und sich zugleich einen bleibenden Platz im Gedächtnis der Familien gesichert: Sie schenkte meiner jüngsten Schwester Heidemarie, damals vor wenigen Monaten in Obrawalde/Obrzyce, geboren, zu ihrer anstehenden Taufe einen silbernen Serviettenring, der als Gravur das Taufdatum und „Die Einquartierung“ trägt.
Schließlich ist noch von einem Ereignis aus dem ersten Kriegsmonat 1939, d.h. vom sog. Polenfeldzug zu berichten, das für meine Familie und insbesondere für mich als damals noch nicht Geborenen von existenzieller Bedeutung war. Meinem Vater als Reserveoffizier bei einer Artillerieeinheit wurde natürlich auch ein Gestellungsbefehl geschickt, und er hatte sich mit einem Koffer, der seine persönlichen Utensilien enthielt, bei seiner Einheit eingefunden. Nähere Informationen, wann er wohin aufgebrochen oder wo seine Einheit eingesetzt war, hat Schwester Brunfriede leider auch nicht mehr zur Hand.
Sie erinnert sich jedoch an seine gesunde Rückkehr nach vier Wochen und erzählt, daß sein Koffer arg lädiert, d.h. mehr oder weniger zerfetzt war. Grund: Mein Vater war in jenen Kriegstagen in Polen mit einem Kübelwagen unterwegs, sein Koffer lag auf dem Rücksitz, als sein Fahrer mit dem Wagen auf eine Mine fuhr.


Der 1. September 1939 in Tirschtiegel Auch wenn die damals verwendeten Sprengkörper in ihrer Wirkung mit denen von heute wahrscheinlich kaum zu vergleichen sind, hätte dieser Zwischenfall auch ganz anders ausgehen können. Meine Mutter hätte eine Kriegerwitwe mit 6 Kindern sein können und mir wäre nie die Rolle des Nesthäkchens zuteil geworden – unvorstellbar! Nach dem Polenfeldzug wurde mein Vater „uk“ gestellt, da er als Leiter des „kriegswichtigen“ Gutes Tirschtiegel, das die noch kriegswichtigeren schlesischen Kohlegruben mit Grubenholz zu versorgen und obendrein, wie ich von meiner Schwester weiß, jährlich 40 Zentner Fisch nach Berlin zu liefern hatte, „unabkömmlich“ war – ein Segen für unsere Familie wie auch für ihn. Diesen Status behielt er bis zum 23. Januar 1945, bis seine Familie gegen 17 Uhr auf einem Treckwagen Schloß Tirschtiegel für immer verlassen mußte und er den geliebten grünen Rock des Forstwirts gegen „den grauen Rock“ der Wehrmacht eintauschte.