Das Kriegsende in Grunzig 1945
Text und Fotos von Hildegard Bischoff, verw. Wagner, geb. Zerbe


Am 1. September 1939 begann der 2. Weltkrieg. Papa Helmut Wagner wurde gleich am ersten Mobilmachungstag einberufen. In der Nacht zum 1.9.1939 wurde in Grunzig, Kreis Meseritz, Reg.-Bezirk Frankfurt/ Oder Alarm gegeben. Die Uniform hatte Papa Helmut Wagner zu Hause. Sein Gestellungsort war Küstrin an der Oder. Mit einem Lastwagen fuhren die Einberufenen dorthin. Von Küstrin kam Papa Helmut Wagner als Gefreiter direkt an die Front nach Polen zum Mittelabschnitt zum Einsatz. Nach 18 Tagen war ganz Polen besetzt. Ein Teil der Soldaten wurde bald wieder entlassen, darunter auch Papa Helmut Wagner als Bauer.

Anfang 1941 wurde er wieder eingezogen und kam bei Beginn des Krieges mit Russland an die Ostfront. Er war bei der Panzerabwehr in Richtung Charkow eingesetzt und wurde im Januar 1944 verwundet. Vom Kompanieführer bekamen sie den Befehl, in einem Maisfeld mit der Panzerabwehrkanone in Stellung zu gehen. Papa Helmut Wagner bekam einen Bauchdurchschuß.

Beim Liegen bei der großen Kälte im Januar 1944 erfroren ihm beide Beine und mussten amputiert werden. Im Lazarett in Krakow habe ich ihn im Juni 1944 besucht. Ich war 10 Tage dort und bei einer Krankenschwester im Quartier. Während dieser Zeit versorgte Lotte Herhold unseren Haushalt mit. Sie versorgte auch meine Kinder Renate und Brigitte und den Opa. Lotte versorgte auch das Geflügel. In der Zeit waren 15 Putenküken und 8 Entenküken geschlüpft.

Als Papa Helmut Wagner transportfähig war, kam er im Oktober 1944 nach Meseritz ins Lazarett. Nach der Entlassung aus dem Lazarett in Meseritz im November 1944 kam er 4 Wochen zur Umschulung nach Oranienburg. Danach kam er zur Kreisbauernschaft nach Meseritz ins Büro zu Kreisbauernführer Renner. Dort war er auch im Quartier mit Beköstigung. Ich besuchte ihn mit meinen Kindern Brigitte und Renate des Öfteren, ebenso wie Opa Zerbe und seine Geschwister Lotte, Arthur und Enno Wagner. Weihnachten 1944 wurde Papa Helmut Wagner mit dem Kutschwagen zu Besuch in Nipter abgeholt.

Ende Januar 1945 wurde die Kreisbauernschaft Meseritz aufgelöst. Papa Helmut Wagner kam nach Hause. Opa Zerbe und Kutscher Stacho (ein Pole) holten ihn mit der Kutsche bei Familie Renner ab.
Familie Renner hätte ihn sehr gerne zu ihren Kindern über die Oder mitgenommen, aber Papa Helmut Wagner wollte zu seiner Familie nach Hause, zu Mutti Hilde und seinen Töchtern Brigitte und Renate nach Grunzig. Es lag viel Schnee und es herrschte eine große Kälte.


Am 30.01.1945 kamen die Russen über Schwerin/Warthe, Meseritz, Zielenzig in breiter Front nach Grunzig. Am 30.01.1945, bevor die Russen kamen, wurde der Kastenwagen mit Lebensmitteln und Kleidung beladen. Tante Gerda Günther, geb. Wittchen kam zu uns und forderte Papa Helmut Wagner auf, mit seiner Familie mit ihnen auf die Flucht zu gehen. Papa Helmut Wagner sagte: „Wir bleiben auf unserem Hof.“
Gerda Günther und Frau von Wildemann und Gerdas Freundin Ruth Strahl gingen mit Rucksack voll Kleidung und Nahrung und Ausweisen 4 km zu Fuß zum Bahnhof Tempel und kamen mit dem Zug bis nach Berlin, wo sie bei Bekannten Unterkunft fanden.
Am Radio hörten Papa Helmut, Mutti Hilde, Brigitte und Renate, Opa Zerbe und Nachbar Kossmann Nachrichten. Papa Helmut Wagner und Stacho hatten schon zwei Pferde vor den Wagen gespannt, da kam Elli Unrath auf den Hof, um Bescheid zu sagen, daß der Bürgermeister Klinke den Befehl gibt: „Niemand darf Grunzig verlassen.“ Abends um 20 Uhr kamen 2 Russen mit Gewehr im Anschlag zu uns ins Haus. Außer mir waren noch die Obengenannten im Keller des Hauses. Ich wollte gerade in den Keller gehen, als die Russen ins Haus kamen.
In der Nacht haben wir die mit weißen Bettlaken getarnten russischen Soldaten mit ihren Geschützen vorbeiziehen sehen. Der russische Nachschub kam täglich vorbei. Mit der Kutsche und zwei starken Pferden zogen die Polen ab. Danach kamen russische Soldaten auf den Hof und ins Haus. Onkel Leo Wittchen sagte: „Helmut, verstecke Dich.“ Papa Helmut Wagner befolgte die Warnung nicht und ließ sich vor den Russen sehen.

Am 2. Februar 1945 kamen russische Offiziere mit dem deutschen Dolmetscher Schmiedemeister Klebert aus Grunzig in unser Haus. Im Haus blieben nur Papa Helmut Wagner und Opa Max Zerbe, Brigitte, Renate und ich müssen das Haus verlassen. Wir gingen in unserer großen Angst weit weg zu Frau Rau.
Der russische Offizier fragte Papa Helmut Wagner, wo er die Füsse erfroren hat und in welchem Frontabschnitt in Russland. Das Bild im Schlafzimmer mit Papa Helmut in Soldatenuniform wurde sehr gründlich verglichen. Aus der Brennerei auf dem Gut holten die Russen in Pferdeeimern Spiritus zum Trinken. Am Dorfeingang von Weissensee stand die russische Flak in Stellung. Nachbar Stürmers Scheune brannte, alles war hell erleuchtet.
In der Abendstunde erschossen die betrunkenen Russen hinter der Scheune Papa Helmut Wagner mit einem Maschinengewehr. Papa Helmuts letzte Worte, die ich hörte, waren: „Hilde, Hilde, meine armen Kinder.“ Ich war vor den Russen in meiner großen Angst im Garten in den Backofen gekrochen.
Opa Zerbe haben die Russen nichts getan, er war alt und lief schlecht. Nachbar Kossmann sagte uns, dass Papa Helmut Wagner knien musste, dann haben die Russen ihn mit dem MG erschossen. Nachbarn haben Papa Helmut Wagner in die Scheune getragen. Am nächsten Tag holten die Nachbarn aus der Tischlerei Klam bei Bauer Löchert den letzten Sarg für Papa Helmut Wagner.

Nach 3 Tagen fuhren die Nachbarn Papa Helmut Wagner zum Friedhof. Kränze habe ich aus grünem Buchsbaum und stacheligen Blättern aus unserem Garten geflochten. In alle drei Kränze steckte ich die Papierblumen. Onkel Leo Wittchen las am Grab aus einem Gebetbuch passende Gebete vor. Träger des Sarges waren Leo Wittchen, Wilhelm Kramm, Reinhold Hemmerling, Wilhelm Rosental, Oskar Unrath und Gotthilf Herhold. Papa Helmut Wagner hat eine Grabstelle mit Hügel und Holzkreuz und schwarzem Trauerflor.

In Grunzig waren auf den Straßen und Feldern 13 von ihren Truppenteilen versprengte deutsche Soldaten von den Russen erschossen worden. Diese 13 erschossenen deutschen Soldaten wurden am selben Tag, dem 2.02.1945, in einem Sammelgrab links neben dem Grab von Papa Helmut Wagner beerdigt Die Erkennungsmarken wurden den toten deutschen Soldaten abgenommen und alle 13 in ein Glas getan und mit in dem Grab vergraben.
Nach dem Einmarsch der Russen ging es dauernd in Haus und Hof rein und raus. Einmal wollte ein Russe mit dem Pferd durch das Fenster zu Stürmers Seite ins Wohnzimmer rein. Ich musste dauernd bei Frau Rau bleiben. Da ich erst 35 Jahre alt war, durfte ich mich nicht ohne alte Kleider und alte Tücher sehen lassen.
Es kamen auch Kosaken mit ihren kleinen, schnellen Pferden, sie ritten so schnell wie die Feuerwehr.
Diese Nacht war ich bei der alten Frau Päschke (80 Jahre) unterm Bett. Nachts kamen Kosaken in das Zimmer, sie hatten aber zum Glück keine Taschenlampen. Morgens gab mir Frau Päschke alte Kleider und Schuhe. Opa Max Zerbe fütterte und melkte die eine Kuh auf unserem Hof.
Er hatte sie dreifach angekettet und schlief nachts im Stall, denn sonst hätten die täglich durchziehenden russischen Soldaten die längst geholt, denn es wurden jeden Tag Pferde, Kühe, Schweine, Hühner und Puten mit genommen.
Bei Rosentals wohnte hinten eine Familie mit vielen Kindern, die dringend Milch brauchten. Im Februar sind wir jungen Frauen mit einer ganz langen Leiter auf den Boden der Brennerei auf dem Gutshof gestiegen und haben uns versteckt. Etwas Nahrung bekamen wir von zu Hause. In Weissensee wurden Mädchen und junge Frauen zusammen geholt und geschändet und anschließend ermordet – ein Blutbad wurde angerichtet.
Frau Pastor wirtschaftete mit Opa Zerbe bei uns. Die beiden Kinder waren bei ihr im Zimmer. Gute Kleidung hatte wir mit Papa und Opa vergraben. Kaninchen hatten wir geschlachtet, gebraten und in Gläser getan und im Schuppen vergraben.
Mit eisernen Stäben suchten die Russen nach vergrabenen Sachen in Schuppen, Gärten und Kartoffelmieten usw. Sie hatten die meisten Gläser unter dem Kartoffelroder gefunden. Silberne Bestecke, sowie Kleider und Wäsche hat der Pole, der unseren Hof bekam, gefunden. Möbel usw. fand er ja im Hause vor.
Im März 1945 sollten wir auf dem Acker Getreide säen. Es wurde bekannt gegeben, daß man sich Pferde für die Arbeiten holen kann. So holten ich und Heinz Hemmerling jeder ein Pferd vom Blesener Markt. Opa Zerbe und ich pflügten und säten auf dem Acker hinter der Scheune und auf dem Ackerstück Seckrute Hafer und Gerste und pflanzten Kartoffeln. Gemüse hatte ich im Garten ebenfalls gesät und gepflanzt.
Bis zum 8. Mai 1945 kamen noch täglich russische Truppen durch. Am 8. Mai 1945 wurde Berlin von den Russen erobert. Nach dem Sieg über Deutschland wurde unser Gebiet unter polnische „Verwaltung“ gestellt. Die Polen, die in der Post und Verwaltung tätig waren, trugen Armbinden. Am 24. Juni 1945 kam ein Pole mit Armbinde auf unseren Hof. Er trug auch ein Gewehr und gab den Befehl: „Binnen 4 Stunden muss der Besitzer des Hofes seinen Besitz verlassen!“
Besitzer war ich und Papa Helmut und so musste ich mit den beiden Kindern, Brigitte 8 Jahre und Renate 5 Jahre alt, in Richtung Westen ziehen. Alte „Ausgedinger“ konnten noch bleiben und so blieb Opa Max Zerbe noch da. Unser Gepäck, 2 Säcke mit der notwendigsten Kleidung, ein Deckbett und etwas zum Essen, luden wir auf unseren alten Handwagen und zogen mit dem Treck los.
Gleich in der ersten Nacht wurden die Räder von unserem Handwagen gestohlen. Zum Glück fuhr ein Kastenwagen an uns vorbei, der unser Gepäck mitnahm. Das Essen trug ich im Rucksack auf dem Rücken. Die Papiere hatte ich bei mir. Bei Tage wurde marschiert und am Abend etwas Suppe auf Steinen unter freiem Himmel gekocht.
Übernachtet wurde in Hallen oder Schulen. Kein Rotes Kreuz kümmerte sich um uns.

Der Treck ging bei Küstrin über die Oder. In 10 Tagen waren wir in Müncheberg/Mark. Mit Frau Rau waren wir immer zusammen. Ihr Bruder, der Zimmermann war, wohnte in Müncheberg. Unsere zwei Säcke stellten wir bei Herrn Rau ab. Ebenfalls blieben die Kinder da. Ich ging zur Bürgermeisterei, um uns anzumelden. Wir drei bekamen ein Zimmer und Küche weit draußen am Stadtrand in der Nähe vom Forschungsinstitut. Ich bekam auch gleich Arbeit auf dem Gut Philippinenhof.
Doch es war ein weiter Weg von der Wohnung bis zur Arbeitsstelle. Es wurde meistens gepflanzt, gehackt und gejätet. Wir waren 20 Frauen und bekamen ein warmes Mittagessen und Brot.
Abends nahmen wir Gemüse zum Kochen mit nach Hause. Die beiden Kinder Brigitte und Renate gingen in den Kindergarten und bekamen dort Mittagessen von der Stadt. Wir bekamen nun auch Brot- und Lebensmittelkarten. Durch bekannte Frauen bekamen wir in Grüns Haus ein Zimmer und Küche. In dem Haus waren noch ein Mann und zwei Schwestern, ebenfalls ausgewiesene Bauern, untergebracht. Ich hatte es nun nicht mehr so weit zur Arbeit

Als wir drei eines Abends von der Arbeitsstelle nach Hause kamen, standen Onkel Leo Wittchen, Tante Anna, Lotte und Sohn Klaus vor Grüns Hof. Wir weinten alle sieben vor Freude. Die Gäste blieben ein paar Tage, um sich zu erholen und zogen dann mit ihrem Handwagen weiter nach Westen. Wie wir später erfuhren bis Hösinghausen. Das war im Herbst 1945.
1946 bekommen wir eine neue Wohnung in der Heimstraße 26 bei Urban, ein Zimmer mit Küche und Stall für Kaninchen und 2 Hühner. Später wechselte ich meine Arbeitsstelle und ging zum Großbauern Knospe Gemüse hacken und ernten, Wäsche waschen und Sirup kochen. Wir gingen auch in den Wald, um Pfifferlinge und Steinpilze zu sammeln und verkauften diese in Berlin.
Ein Nachbar schlachtete unsere Kaninchen, die wir ebenfalls in Berlin verkauften. Von dem Erlös bekam jeder ein Paar Lederschuhe und Stoff für ein Kleid, die Kinder auch noch Winterstiefel. Beim Nachbar half ich auch noch beim Beeren pflücken. Im Herbst ging ich zu Familie Streiter nach Jahnsfelde, um bei der Ernte zu helfen. Familie Streiter stammt ebenfalls aus Meseritz. Sie hatten dort eine große Landwirtschaft.
Außer den Eheleuten gehörten zur Familie noch ein Sohn, 3 Töchter und der Opa. Mein Vater Max Zerbe durfte nun endlich von Grunzig zu uns kommen. Er bekam eine kleine Rente und ging in die Bäckerei Fink zum Holz hacken, holte Weiden und flocht Körbe, bis er am 10. Oktober 1948 starb. Er ist auf dem Waldfriedhof in Müncheberg beerdigt. Nach etwa 30 Jahren wurde der Sohn von Frau Walde an der gleichen Stelle beerdigt.

Soweit meine Erinnerungen und Erlebnisse an das Kriegsende und seine unmittelbaren Folgen für mich und meine Familie.