„Post aus Tirschtiegel“
von Albrecht Fischer von Mollard


Ursprünglich wollte ich lediglich über ein interessantes Sammlerobjekt berichten, aber am Ende ist daraus doch deutlich mehr geworden, weil das Thema ergiebiger war als ursprünglich gedacht. Vor etwa 10 Jahren stieß ich im Internet auf einen in Tirschtiegel abgestempelten Vorphilatelie-Brief, d.h. auf ein Kuvert aus einer Zeit, zu der es noch keine Briefmarken gab. Das angebotene Original war für mich, der seine ersten drei Lebensjahre in Tirschtiegel verbracht hat, insofern etwas Besonderes, weil es den Stempelaufdruck des Städtchens meiner frühen Kindheit trug.

Darüber hinaus aber wurde es „mit vollständigem Inhalt“ angeboten, was relativ selten ist und natürlich zwangsläufig neugierig macht. Und schließlich war der Brief im Jahr 1858 geschrieben worden, im gleichen Jahr, in dem mein Großvater Ernst Gotthelf Fischer (ab 1902 Fischer von Mollard) am 3. Mai in Tirschtiegel das Licht der Welt erblickt hatte. Es gab also genügend Gründe, um das Sammlerstück für 8,00 Euro zu erwerben.

Das vollständige Dokument besteht aus einem einzigen Papierbogen von der Größe 42 x 34 cm, der, einmal mittig gefaltet, durchaus unserem heutigen Standardformat DIN A4 ähnlich ist. Von den durch die Faltung entstandenen 4 Seiten sind die Seiten 1 bis 3 zweispaltig beschrieben, während Seite 4 lediglich das Adressfeld zeigt, denn durch eine ausgeklügelte Falttechnik diente das Objekt als Briefbogen wie auch zugleich als Umschlag.





Es ist entweder ein Zeugnis preußischer Sparsamkeit, ein Beleg für praktische Kommunikation oder von Beidem etwas, denn das Schriftstück wurde mehrfach versendet und vom jeweiligen Empfänger ergänzt: Von der Gemeindeverwaltung in Tirschtiegel wurde es an das Landratsamt in Meseritz geschickt, lief wegen weiterer Fragen zurück an den Absender, von dort mit den gewünschten Ergänzungen erneut zum Landratsamt, das den Brief wieder zurück nach Tirschtiegel schickte, wo man aktuelle Angaben hinzufügte und anschließend alles wieder zum Landratsamt sendete, das schließlich den Brief mit allen Informationen an die Oberförsterei nach Jordan schickte.

Gegenstand des gesamten Schriftverkehrs, der natürlich in Sütterlinschrift abgefasst wurde, ist der Bau eines Schulhauses in Naßlettel.





Vor wenigen Wochen habe ich dieses Zeitdokument verschenkt, nämlich an das Museum Meseritz und seinen Direktor Andrzej Kirmiel, um einen kleinen Beitrag zu seinem Bemühen zu leisten, Spuren und Zeugnisse der preußischen und deutschen Geschichte unserer Heimatregion zu bewahren, zu präsentieren und der Nachwelt zu überliefern. Da man sich in Meseritz sicherlich auch für den Inhalt des Vorphila-Briefes interessiert, habe ich den Text transkribiert, was allerdings nicht vollständig gelungen ist, denn die Handschrift des Amtsschreibers in Meseritz war für mich nur teilweise zu entziffern.

Zum besseren Verständnis ergänzte Hinweise stehen in Klaqmmer und hellem Grau; drei Fußnoten enthalten Erläuterungen zu im Text verwendeten Begriffen. Sicherlich werden auch Leser des Heimatgrußes Freude an dem folgenden, vor 160 Jahren verfassten Wortlaut des nunmehr wieder in Meseritz befindlichen Dokuments haben..





Tirschtiegel, den 29 ten Juli 1858
Betr. den Schulhausbau in Naßlettel
Verf(ügung) vom 18. Juli d. J. No.32.5.58/7 und vom 17. Juni d.J. No 287/6

Dem königlichen Landraths-Amte berichte ich zur neben1) allegierten2) Verfügung gehorsamst Folgendes:
Das gemiethete Lokal in Naßlettel wird seit dem 27 ten d. Mts bereits als Schul Lokal benutzt.
Die Baukosten betragen laut(Kostenvor-) Anschlag excl. Hand- und Spanndienste 979 g (Gulden?) 16 Sg (Silbergroschen) 10 d3)

1. dazu giebt die Königliche Regierung Bauholz
.............. 249 g 9 Sg 1 d
2. desgleichen Unterstützung
.............. 200 g 0 Sg 0 d
3. Anleihe aus der Provinzial Hülfs- Kasse
.............. 250 g 0 Sg 0 d
4. Beiträge der Schul-Societät
.............. 280 g 7 Sg 9 d
zusammen ......979 g 16Sg 10d

Von den Beiträgen der Schulgemeinde sind bereits aufgebracht
a pro 1857: 50 g
b pro 1856: 100 g
............150 M

Im September und November werden noch aufgebracht:
.............. 50 g
zusammen ..... 200M – mithin bleiben 1859
noch aufzubringen 80 g 7 Sg 9 d
wenn der Bau nicht billiger ausgeführt werden sollte, als für die Anschlagssumme.

Das aufgebrachte Geld, wovon bereits circa 30 g. für Feld und Mauersteine verausgabt sind, hat der Schulvorstand in Händen und weigert sich, es in der Sparkasse zinsbar anzulegen.
Die Auszahlung der Anleihe von 250 g wünscht die Schulgemeinde zum 1. April k.Js (kommenden Jahres) und bittet, die erste Amortisationsrate erst am 1. Januar 1860 zahlen
zu dürfen.
Um abermalige Anweisung von Bauholz zum nächsten Wadel4) , anstatt des im verflossenen Winter von königlichen Oberförster verkauften bittet dieselbe ebenfalls.
Auf Einzahlung der Beitragsraten halte ich strenge, glaube auch, daß die Gemeinde jetzt den ernsten Willen hat, den Bau sobald als thunlich, auszuführen.
Der Districts Commissarius
v. Arnim



Begriffserklärung 1-4 (Quelle: Internet):
1) Die ersten drei Zeilen mit der Angabe der entsprechenden Verfügungen stehen in der linken Textspalte, die folgenden Ausführungen rechts daneben)
2) lt. Duden altes Wort für „anführen“, „zitieren“
3) lt. Wikipedia: „Für Pfennig wurde frühervorrangig das Kürzel „d“ verwendet, wobei „d“ für „denarius“ steht, eine kleine römische Münze“.
4) „Der Wadel, des -s, plur. ut nom. sing. ein im Hochdeutschen unbekanntes und nur in einigen, besonders Niederdeutschen Provinzen, übliches Wort, die Zeit des Vollmondes zu bezeichnen, da es denn nach Niederdeutscher Art oft in Waal zusammen gezogen wird. Es ist Wadel, der Mond ist voll. Hernach wird auch die beste Zeit, Holz zu fällen, der Wadel, oder die Wadelzeit, genannt, vermuthlich weil sie in die Zeit des Vollmondes fällt,
S(iehe). Holzwadel. Wenn erweislich wäre, daß jede Mondswandelung, oder scheinbare Ab- und Zunahme des Mondenlichtes, der Wadel genannt würde, so würde man das Wort von wandeln, sich verändern herleiten können. Da es aber, wie es scheint, nur auf die Zeit des Vollmondes eingeschränkt ist, so scheint der Begriff der Fülle der herrschende zu seyn, da es denn mit Wade zu Einem Geschlechte gehören würde.“
„Der Holzwadel, des -s, plur. die -n, in der Landwirthschaft, besonders Niedersachsens, derjenige Zeitraum, in welchem das Bau- und Nutzholz am vortheilhaftesten zu fällen seyn soll. S(iehe). Wadel“
Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart,
Band 4. Leipzig 1801, S. 1329.



Die nur in Teilen zu entziffernde Antwort des Landratsamtes erfolgte prompt:

Br(ief) m(it ) (es folgen drei weitere Einzelbuchstaben – vielleicht zu interpretieren „mit der Maßgabe“) zurück, und dem Schulvorstand mehrmals aufzugeben, die mit 120 g hinter sich habende Beiträge bei der Kreis Sparcasse verzinslich anzulegen und ihm zu eröffnen, ...(der weitere Text ist für mich nur noch bruchstückhaft zu entziffern) ... durch ... Ordnungs ...gezwungen werde, ... meiner Anordnung nachzukommen ... nichts weiter als Opposition zum Grunde liegt. ... die 120 g in der Casse vorhanden sind ... Schulvorstand ... ist, ist ... zu nehmen.
Meseritz, 31. Juli 1858
Königlicher Landrath Unterschrift


Die vorläufige Antwort aus Tirschtiegel beginnt ebenfalls mit einem Buchstabenkürzel, vermutlich im Sinne von „Ich erlaube mir“ und dann weiter:

mit dem Bericht gehorsamst zurückzureichen, daß ich den Schulvorstand von Naßlettel mit Anweisung versehen habe und die Sache controllieren werde.
Am 11. dmts (dieses Monats) werde ich die Baukasse genau revidieren.
Tirschtiegel, den 2. August 1858
Der Districts Commissarius
v. Arnim

Es folgt ein interner Vermerk des Landratsamtes:

Reprod (bedeutet möglicherweise „Wiedervorlage“) 20. d. Mts
... Bericht angefdt. (angefordert?)

Darunter der Text für Tirschtiegel kurz und bündig:

Br. m. ... Kögl. District Commissariat Tirschtiegel als Erinnerung
Meseritz, 26. Aug. 58
Königlicher Landrath
Paraphe


Der angeforderte Bericht an das Landratsamt beginnt mit einem Buchstabenkürzel für „Ich erlaube mir“ und anschließend heißt es:

mit dem Berichte gehorsamst zurückzureichen, daß folgende Beiträge bis jetzt eingegangen sind:

pro 1857 = 2 Raten à 25 g = 50 g
pro 1858 = 3 dto = 75 g
dito —— auf die 4. Rate = 18 g
zus.: 143 g

Für dieses Jahr werden noch 2 Raten eingezogen.
Verausgabt sind:
1857: auf Mauerziegel = 10 g
1857: für Feldsteine — 13 g 5 Sgr
1858: für Mauerziegel — 15 g
1858: Feldsteine — 6 g
Summa 44 g 5 Sgr
daher Bestand 98 g 25 Sgr

Die Schulgemeinde behauptet, davon noch in diesem Jahre Baumaterialien, namentlich Ziegel und Kalk, kaufen zu wollen, um im Winter dieselben anfahren zu können.
Das Geld ist bei dem Kassenrendanten Anton Wegmann, wie ich mich noch vorgestern überzeugt habe, baar vorhanden.

Tirschtiegel den 8. September 1858
Der Districts-Commissarius
v. Arnim


Daraufhin schreibt das Landratsamt am nächsten Tag:

An die Königliche Oberförsterei Altenhof in St. Johannis (?) - Jordan
Unter Bezugnahme auf die Ordre der Kögl. Regierung zu Posen vom 7. April 1857 No, 28/457II frage ich dienstergebenst an, ob aus dem Wadel4)(Holzeinschlag) 1858/59 das Bauholz für die Schule in Naßlettel verabfolgt werden wird.
M (eseritz) 9.9.58
Unterschrift Paraphe





Damit endet das historische Dokument, das den Schulhausbau in Naßlettel betrifft. Vielleicht wird der Originalbrief eines Tages im Museum Meseritz ausgestellt und könnte dann dort angeschaut werden.


Eine Postkarte von 1936
Nach diesem historischen Einblick in die verwaltungstechnischen Probleme eines Schulhausbaus vor 160 Jahren im Kreis Meseritz ist der Übergang zum zweiten Teil einfach, denn die eingangs erwähnte Sparsamkeit trifft auch auf die im Folgenden vorzustellende Postkarte aus Tirschtiegel zu, die im Jahre 1936 geschrieben wurde und für mich eine besondere Bedeutung hat.
Sie wurde ebenfalls im Internet angeboten, und das Attribut Schloß Tirschtiegel bedeutete für mich als ehemaliges Kind vom Schloß: „Zugreifen!“.





Dieses Dokument stellt normale Geschäftskorrespondenz aus dem Jahr 1936 dar, mit der Informationen für das am Koninsee gelegene Sägewerk eingeholt werden, dennoch enthalten sowohl die Vorderseite als auch das Revers Überraschungen.

Als Absender wird E.(rnst) G.(otthelf) Fischer genannt, mein Großvater, der aber bereits 1931 verstorben war. Eine 5 Jahre alte, nicht mehr ganz aktuelle Postkarte zu verwenden, spricht für praktizierte Sparsamkeit eines Betriebes – könnte man sagen.
Wenn man aber bedenkt, dass jener E. G. per Kabinettsorder seit 1902 einen anderen Namen trug und somit die Postkarten bereits seit mehr als 34 Jahren stapelweise im Schrank gelegen haben mussten, wandelt sich die unterstellte Sparsamkeit in schlichten Geiz. Und dazu noch Bayern mit „ey“ – Junge, Junge! (Die Gutssekretärin meines Vaters hieß Frau Junge).

Die Rückseite enthält sogar drei „Klopse“: Sich damals „hochachtungsvoll“ zu grüssen, war nicht mehr ausreichend, es musste „Mit deutschem Gruß“ sein.
Sparsam war zudem auch die Gutssekretärin, die bei den angefragten „Wasserwaagen zum Messen des Überhanges“ ein kleines „a“ einsparte und damit letztlich ein völlig anderes Produkt angefragt hatte, einen Wasserwagen.





Schließlich hat mein Vater die übertriebene Sparsamkeit seines Vaters hinsichtlich der überalterten Postkarte insofern mitgetragen, als er sie nicht mit seinem Namen signierte, sondern nach 34 Jahren noch einmal E. G. Fischer aufleben ließ.
Dennoch ist es ein schönes Dokument, das ich mir da aus dem Internet geangelt habe.