Ein Schierzig-Hauländer erzählt
von Werner Schulz

Die Chronik der Sippe Schulz aus Schierzig-Hauland geht anhand der Ahnentafel bis zum Jahr 1780 zurück. Die vorletzte Generation hatte zwei schwere Schicksalsschläge zu verzeichnen. Mein Vater Leopold Schulz heiratete 1908 seine erste Frau.Sie verstarb schon 1921 und hinterließ vier kleine Kinder. Mein Bruder Herbert war zwei Jahre alt. Durch Bekannte von meinem Vater kam meine Mutter als Wirtschafterin auf den Hof, da mein Vater mit den vier Kindern, dem vielen Vieh und der großen Landwirtschaft nicht allein bleiben konnte.
1924 heiratete mein Vater meine Mutter. In dem Jahr wurde auch der dreißig Meter lange Viehstall gebaut.

Ich wurde am 03. September 1927 geboren. 1928 wurde mit dem Bau der dreißig Meter langen Getreidescheune begonnen. In dem gleichen Jahr wurde in Schierzig-Hauland der Bau einer zweiten Schule beschlossen.


Werner Schulz - ein Schierzig-Hauländer erzählt

Da mein Vater im Schulausschuß war, fuhr er eines Abends mit dem Fahrrad von einer Sitzung nach Hause und wurde von einem Arzt aus Tirschtiegel mit dem Auto angefahren. Dieser beging Fahrerflucht. Später fanden andere Sitzungsmitglieder meinen Vater im Straßengraben. Es kam jede Hilfe zu spät: er war verblutet.
Bei der Gerichtsverhandlung gab der Arzt an, kein Licht am Fahrrad gesehen zu haben. Die anderen Sitzungsmitglieder bezeugten jedoch, daß die Kabidlampe am Rad noch brannte.


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Nun stand meine Mutter vor der schweren Arbeit, die große Scheune war im Bau und sie für alles verantwortlich. Sie hat mit mir dem kleinen Wurm, und den heranwachsenden Kindern alles gemeistert, bis zur Ausweisung. Später erzählte sie, daß die schlimmste Zeit ihres Lebens der Durchzug der Russen 1945 gewesen sei.
Als der Krieg begann, war ich zwölf Jahre alt. Auf allen Höfen wurden die Arbeitskräfte knapp, weil die Väter und älteren Brüder zur Wehrmacht eingezogen wurden. So mußten wir als Kinder fleißig mitarbeiten.
Als der Krieg mit Frankreich zu Ende war, mußten wir unseren Maschinenraum hergeben, und 26 französische Kriegsgefangene wurden dort untergebracht. Diese gingen zu den einzelnen Landwirten zur Arbeit.


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1942 habe ich noch einen Ausbildungsplatz als Schlosserlehrling bekommen. Im Spätsommer 1944 hatte ich dann einen Betriebsunfall. Wiederhergestellt, flatterte der Einberufungsbefehl ins Haus zur Panzerausbildungsabteilung Neuruppin. Nach sechs Wochen Grundausbildung wurden wir zur technischen Ausbildung nach Dänemark verlegt. Im Januar 1945 kamen wir nach Neuruppin zurück. Von da aus weiter nach Thüringen in die Nähe des Eichsfeldes. Beim Kampfeinsatz wurden wir von den Amerikanern beschossen. Als wir manövrierunfähig waren, konnten der Kommandant und ich den Panzer durch den Turmausstieg verlassen. Funker und Fahrer, deren Ausstiegsluken beim Panzer 4 auf dem Vordeck liegen klemmten vom ersten Treffer, und beide überlebten das Inferno nicht.


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Die amerikanische Kriegsgefangenschaft begann für drei Monate auf den berüchtigten Rheinwiesen. Unser Bett war der Erdboden und der Himmel unser Zelt. Man war tagelang durchnässt und konnte vor Hunger und Kälte nicht zur Ruhe kommen. Als es mit den Entlassungen los ging, kam die Parole auf, daß die Soldaten, welche von der rechten Seite der Oder kamen, nicht entlassen würden, sondern nach Frankreich zur Arbeit in die Bergwerke kämen. Da ich eine Adresse vom Eichsfeld besaß, verkaufte ich die Taschenuhr meines Vaters für fünf Schachteln Zigaretten, denn Zigaretten waren die Lagerwährung.
Für meine neue Währung besorgte ich mir Zivilkleidung von Volkssturmleuten, welche auch im Lager waren. Als Thüringen zur Entlassung an der Reihe war, maschierte ich mit zur Entlassungsstelle. Ich schrieb auf zwei Zetteln, ich wäre ein Landwirtssohn aus Thüringen, Kreis Heiligenstadt, Eichsfeld, die Amerikaner hätten mich unterwegs aufgegriffen, und ich wüsste nicht, warum ich im Kriegsgefangen Lagern wäre. Als ich dem Kommandanten die Zettel überreichte, sah er mich verwundert an, und ich zeigte auf den Dolmetscher. Dieser las alles auf Englisch vor, und sie zuckten die Schultern. Darauf sah mich der Kommandant prüfend an und knallte den Stempel auf den Entlassungsschein.

Zehn Tage später ging es mit großen LKW nach Erfurt. Vor dort mit kleineren Fahrzeugen in einzelne Kreisstädte. Ich landete in Heiligenstadt. Dann führte mein Weg zu Fuß nach Lenterode. Die Adresse vom Kreis Heiligenstadt, Eichsfeld, hatte ich von zwei Frauen bekommen, als wir zu Fuß durch Lenterode zogen. Sie hatten eine kleine Landwirtschaft. Der Mann von einer der beiden war schon jahrelang in Rußland vermißt. Ich sagte ihnen, wenn ich aus der Gefangenschaft zurück käme und nicht in meine Heimat zurück könnte, käme ich zu ihnen und helfe in der Landwirtschaft. Als ich nun in Lenterode ihr Haus suchte und schließlich fand, war die Freude groß. Ich hatte Wort gehalten!

Im November 1945 fuhr ich nach Berlin in Richtung Frankfurt/Oder, wo ich meine Mutter bei meinem Onkel vermutete, und ich fand sie auch vor. Da die Verpflegung dort sehr schlecht war, nahm ich sie mit ins Eichsfeld. Wir hatten zusammen ein Zimmer und auch sie half ebenfalls mit in der Landwirtschaft. Nach vier Jahren gab ich die Arbeit auf. Als ich mich arbeitslos gemeldet hatte, schickte mich das Arbeitsamt zur Uranbergbau, auch Wismut genannt. Nach einem halben Jahr kam ich zurück und arbeitete sechs Monate als LKW-Fahrer zur Aushilfe in Uder. Danach in einer volkseigenen Kraftfahrzeugreparaturwerkstatt, um nach einem Jahr meine Gesellenprüfung zu machen.
Es erfolgte eine Kündigung nach sieben Monaten, weil ich politisch nicht in den Betrieb paßte. Zum Glück hatte ich Gelegenheit, in einer privaten Maschinenfabrik anzufangen, welche Landmaschinen und Traktoren reparierten. Der Betriebsleiter war ein Schwager der Frauen aus Lenterode. Nach einem Jahr legte ich meine Gesellenprüfung mit „Gut“ ab. Einige Monate später kam der Fuhrunternehmer aus Uder und wollte mich zurück haben, da ein weiterer Fahrer ausgefallen war; so ging ich als Fahrer nach Uder zurück. Da die älteste Tochter des Fuhrunternehmers ein sehr hübsches Mädchen war, verliebten und verlobten wir uns 1954. Sie sollte später auch den Betrieb übernehmen. Als ich im Januar 1956 eine Besuchsreise zu meinem Bruder nach Waake, Kreis Göttingen, BRD, genehmigt bekam, unterhielten Herbert und ich uns über die Gesamtlage. Mein Bruder hatte im Krieg eine schwere Verwundung erfahren und war zwei Jahre in russischer Gefangenschaft gewesen. Er war nun als Hofmeister auf dem Rittergut „Von Wangenheim“ in Waake angestellt. Er überredete mich, mit Mutter und meiner „Eichsfelderin“ nach Waake zu kommen. Hier könne man mit 28 Jahren auf eine bessere Zukunft hinarbeiten.

Er hätte auch gleich eine passende Arbeitsstelle für mich, denn das Rittergut hatte Milchabfuhr von den umliegenden Ortschaften zu tätigen und der Fahrer hatte gekündigt. Ich willigte ein, und wir verließen mit List und Tücke die DDR. Ich habe dann acht Jahre mit einem Unimog und Anhänger mit Milchfaß die Milch in Waake zur Zentralmolkerei nach Landolfshausen gefahren und in dieser Zeit einen Bauplatz in Waake gekauft und ein Haus gebaut. Meine Mutter verstarb 1983 im 94. Lebensjahr. Als ich keine Werkswohnung mehr benötigte und den Unimog in- und auswendig kannte, habe ich bei der Unimog-Generalvertretung in Göttingen als Vorführer angefangen, denn mit einem Unimog kann man zweiundvierzig An- und Aufbaugeräte betreiben, welche den kaufwilligen Kunden demonstriert werden mußten. Außerdem mußte ich die neuen Unimogs vom Werk in Gaggenau zum Aufbau anderer Geräte, zum Beispiel Baggeraufbau, nach Memmingen ins Allgäu, bringen. Die Anstellung war nur von kurzer Dauer.


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Zu gleicher Zeit wurde in Waake eine große Mittelpunktschule mit Sporthalle für ein Einzugsgebiet zum Aufbau für sieben Ortschaften gebaut. Obwohl genug Bewerber vorhanden waren, kam der Vorsitzende des Mittelschulzweckverbands zu uns und ich sollte mit meiner Frau als Hausmeisterehepaar den Dienst übernehmen. Wir willigten ein, und mit noch 3 weiteren Raumpflegerinnen sorgten wir sechsundzwanzig Jahre für Sauberkeit, Sicherheit und Ordnung auf dem Schulgelände. Bei meiner Verrentung Anfang der 90er Jahre betonte der Samtgemeindebürgermeister in seiner Ansprache, daß wir unseren Dienst in der ganzen Zeit zur vollsten Zufriedenheit aller geleistet hatten.

Wie schrieb doch der alte Heimatdichter Wilhelm Busch so schön:

Das größte Glück in dieser Zeit,
das ist doch die Zufriedenheit!


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Schierzig-Hauland heute
Das erste Mal war ich 1975 auf Einladung nach einigen Briefen auf unserem ehemaligen Besitz und Hof. Ich war dann von 1975 bis jetzt über dreißig Mal zu Besuch, oft mit meiner Familie, oft mit guten Freunden. Auch waren die neuen Besitzer schon einige Male in Waake. Tochter Ella, welche den Besitz vom Vater übernommen hatte, schrieb mir vor langen Jahren in einem Brief: „Werner, wir haben ein gemeinsames Haus. Du bist darin geboren und aufgewachsen und ich auch. Und das soll für immer so bleiben!“ Ich finde, diese Aussage ist unter tausenden einfach einmalig schön!


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Zum Ende meiner Ausführungen:

“Oh, Mensch Gottes,
wo Dir die Sonne zuerst schien,
wo dir die Sterne des Himmels
zuerst leuchten,
da ist dein Heimatland.
Und seien es öde Inseln oder kahle Felsen,
du mußt dein Land ewig lieb haben,
denn es ist dein Heimatland.“

nach Ernst-Moritz Arndt


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