Kindheitserinnerungen an Meseritz
Text von Jobst Parusel, Bilder von Jobst Parusel und Archiv Hgr


Der Autor wurde am 19. Juli 1936 in Betsche im Landkreis Meseritz in der damaligen Ostmark Brandenburg geboren. Sein Vorname Jobst wird aus dem Keltischen Jodokus abgeleitet - und bedeutet so viel wie Kämpfer. Er ist nach der Schulzeit Journalist geworden und auch geblieben. Auch wenn dieser Beruf in den Jahren nach 1945 in Deutschland häufig Schwierigkeiten mit sich brachte, ließ sich der Autor nicht verbiegen. Noch schreibt er als Journalist täglich auf, was in der technisierten, globalisierten Welt auf dem Erdball geschieht.

Sein Fazit: Die Menschheit hat seit Bekanntwerden ihrer Geschichte kaum etwas aus ihr gelernt. Die Kraft und die Schwächen der Menschen, die Macht und die Ohnmacht der Völker und Staaten haben sich ständig weiterentwickelt. Ein Streifzug durch die Weltgeschichte, die von Schriftkundigen aufgezeichnet wurde, entlarvt täglich, was sich verändert hat. Geblieben sind unterschiedliche Glaubensbekenntnisse, unterschiedliche Meinungen, unterschiedliche Kulturen und Rituale und die Kämpfe des Lebens. Das alles erlebte der Autor in immerhin über achtzig Lebensjahren.

Kindheitsjahre von 1936 bis 1944
Seine Großväter stammten aus Schlesien. Einer war Revierförster, der andere Revisor. Der Vater war Zollbeamter, die Mutter Hausfrau. Es gab vier Söhne aus dieser Ehe. Bodo, Jahrgang 1945, ist nach vier Monaten seines Lebens verhungert. Die anderen drei Brüder Manfred, Jahrgang 1934, Jobst, Jahrgang 1936, und Jürgen, Jahrgang 1940, feierten Ende Juli 2016 gemeinsam den achtzigsten Geburtstag des Autors in einem alten Zoll-Haus in Willich am Niederrhein.
Eingeladen hatte Phillip, der 50jährige Sohn des Autors, Studienrat von Beruf und der einzige Nachfahre aus der Familie des Journalisten. Dieser - ein Sonntagskind - kam früher als erwartet auf diese Welt und soll seiner Mutter die Kaffeestunde mit der Stachelbeertorte verdorben haben. Die ersten acht Kindheitsjahre verlebte Jobst in der Mark Brandenburg. Zunächst in dem kleinen Flecken Betsche, dann in Prittisch, wo sein Bruder Jürgen im Juni 1940 zur Welt kam, und schließlich in der 12 000 Einwohner zählenden Kreisstadt Meseritz.

Meseritz Bahnhofstr.Hier wurde Jobst im Herbst 1942 eingeschult und erinnerte sich nur ungern an den Lehrer Gärtner, der die Erstklässler mit einer Gerte auf die Hände schlug, wenn sie beim Schreiben nicht die rechte Hand benutzten. Jobst war Linkshänder, was er aber in der Klasse zu verbergen wußte. Er verbrachte mit seinen Brüdern im Zollkommissariat in der Bahnhofstraße 17 von Meseritz eine unbeschwerte Kindheit. Dort bewohnte die Familie im ersten Stock des Dienstgebäudes eine geräumige Fünf-Zimmerwohnung, während der Vater im Erdgeschoß seinen Amtsgeschäften nachging.

Da der Bezirks-Zollkommissar häufig mit seinem Dienstwagen im Grenzbezirk unterwegs war, nahm er gelegentlich seine Söhne mit. Einmal durfte ihn Jobst begleiten und wäre dabei beinahe im Wald vergessen worden. Sein Vater stammte aus einem Försterhaus und war passionierter Pilzsammler. Wegen dieser Passion vergaß er seinen Sprössling, der sich im Unterholz verirrt hatte, fand ihn aber zum Glück dann doch wieder.

Meseritz Bahnhofstr.Auf dem Grundstück an der Bahnhofstraße hatten die Kinder reichlich Platz zum Spielen. Neben einem Garten, der von einer russischen Fremdarbeiterin betreut wurde, gab es einen Sandkasten, in dem im Sommer die Pappmaschee-Soldaten der deutschen Wehrmacht aufmarschierten. Mein älterer Bruder Manfred bewunderte damals als Pimpf die Streitkräfte, die in der Garnisonsstadt Meseritz mit einem „Tag der Wehrmacht“ das Interesse der Jugend weckten. Mit Holzgewehren und gemalten Achselklappen verschiedener Dienstgrade wurde häufig mit den Nachbarskindern Wehrmacht gespielt, vom Schützen über den Gefreiten, vom Unteroffizier über den Stabsfeldwebel bis zum Kompaniechef.
Die Müllcontainer mit ihren Klappdeckeln dienten - sofern sie noch leer waren - als improvisierte Panzer. Zum Hof und Garten gehörte ein Hühnerstall, in dem ein Dutzend Hennen fleißig Eier legten bis zu dem Tag, als in der Bahnhofstrasse die Hühnerpest ausgebrochen war. Alle Hennen wurden notgeschlachtet, der Stall desinfiziert und neu gekalkt.
Große Aufregung herrschte auch an jenem Tag, als nachts unser Garten von ungebetenen Gästen heimgesucht worden war, die den Kirschbaum geplündert hatten. Die Diebe hatten bei ihrem Besuch dummerweise einen Ausweis verloren, so daß mein Vater sie schnell ausfindig machen und anzeigen konnte.

Die unbeschwerte Kindheit endete an dem Tag, als der Vater als Reserveleutnant Ende 1943 an die Ostfront eingezogen wurde. Jobst schrieb eifrig Feldpostbriefe, in denen er dem Vater begeistert berichtete, welche Kuchen er beim Geburtstagskaffee seiner Lehrerin vertilgt hatte. Die Rückseiten der Briefe wurden- was damals die kindliche Phantasie beschäftigte - häufig mit kleinen Zeichnungen über den heimischen Hühnerhof mit Hahn, Hennen und Küken versehen. Am 20. Juli 1944 hörte Jobst im Rundfunk die Nachrichten vom fehl geschlagenen Attentat auf Adolf Hitler in der Wolfsschanze. Im Herbst fuhren Tante Charlotte und Jobst mit der Reichsbahn nach Breslau in Oberschlesien, um den im Lazarett liegenden Vater zu besuchen. Er war an der Ostfront durch einen Oberschenkel-Durchschuss außer Gefecht gesetzt worden.

Meseritz Bahnhofstr.
Die Kriegsweihnacht 1944 feierte die Familie ohne Vater mit Tante Charlotte in Meseritz. Als Untermieter hatten wir ein evakuiertes Ehepaar aus Berlin aufgenommen. Herr L. war Uhrmacher von Beruf und sorgte häufig für lustige Begegnungen mit der kinderreichen Nachbarin aus dem Nebenhaus. Anfang Januar mußte meine Mutter Magda wegen der Entbindung ihres vierten Sohnes ins nahe gelegene Krankenhaus. Dort wurde am 16. Januar 1945 unser Brüderchen Bodo geboren.
Eine Woche später holten wir ihn und seine Mutter mit einem Rodelschlitten nach Hause. Erst Ende Januar hatten wir vom Kreisleiter die Genehmigung erhalten, die Stadt verlassen zu dürfen. Am 31. Januar gingen die vier Buben mit ihrer Mutter und Tante in einem mit Stroh ausgelegten Güterwagen unter dem Geheul der Stalinorgel auf die Flucht. Es war der letzte Zug, der gen Westen herauskam, ehe die Front bei Tirschtiegel vor dem Ansturm der Rotarmisten zusammenbrach.

Jobst Parusel im Sommer 2018