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100 Jahre Obrawalde
Kindheitserinnerungen an Obrawalde - von L. Wabinski
Wenn man älter geworden und etwas zur Ruhe gekommen ist, dann schweifen die Gedanken wieder öfter zurück in die Vergangenheit. Man denkt mehr an die Kindheit, ganz besonders an die Jahre in der alten Heimat, dort wo man geboren wurde, wo man aufwuchs, wo man zu Hause war.
Man denkt an die Spielgefährten der Kindheit, an die Schulkameradinnen und -kameraden, an die Nachbarn und an alle die Menschen, die dort lebten und die man kannte.
Vertraute Gesichter tauchen vor dem geistigen Auge auf, alte wohlbekannte Gestalten und Gebärden, bedeutende Ereignisse, die man nicht vergessen hat. Und man sieht in Gedanken die Landschaft der Heimat, die Kiefernwälder, den sandigen Boden, die Obra und die nahen Seen. Dann sagt man sich "wie war es dort doch schön in Obrawalde, in dem kleinen Ort an der Obra nahe der Kreisstadt Meseritz in der Grenzmark".
Der Name ist verbunden mit der dortigen Anstalt gleichen Namens und dem Wohngebiet der dort Beschäftigten und ihrer Familien. Von der Lage und dem Klima her konnte man den Ort als Luftkurort bezeichnen, wenn man ihn nicht als Terrain für eine Heil- und Pflegestätte für Geisteskranke gewählt hätte, die von 1901 - 1904 dort entstanden ist.
Ein Luftkurort war sie gewissermaßen doch auch für die dort wohnenden Beschäftigten der Anstalt mit ihren Familien, wie auch später dann für die zur Heilung einquartierten Lungenkranken und erholungsbedürftigen Kinder.
Denn in den 20er Jahren wurde neben den Abteilungen der Geistes- und Nervenkranken auch eine Klinik für Lungenkranke und eine Kindererholungsstätte mit Krüppelheim eingerichtet, weil die ideale Waldlage sowie das trockene Landklima es geboten, das Hei- lungspotential der Anstalt auch auf diesen Sektor zu erweitern.
Damit kam auch neben den Psychiatern und Nervenärzten ein Lungenfacharzt und ein Kinderarzt in die Anstalt, die mit ihren Familien dort Wohnung nahmen. Später kam dann noch eine Frauenklinik und eine Entbindungsanstalt hinzu, die einen Frauenarzt und wiederum neues Personal in den Ort brachte.
Der Weg zur Anstalt führte über die neue Chaussee in Richtung Betsche, von der man links in eine Lindenallee abbog, um zu einem großen Eingangstor zu gelangen, über dem in einem Rundbogen in großen Lettern der Name OBRAWALDE stand. Rechts vor dem Tor befand sich von einer vorgelagerten Wiese getrennt ein Sportplatz für die Obrawalder. Man ging durch das zweiflügelige Eingangstor, das immer offen war, und stand bald vor dem großen breitgestreckten, imposanten Verwaltungsgebäude aus rotgelben Klinkern. Rechts etwas abseits in einem parkartigen Gelände stand die Villa des Anstaltsdirektors. Linkerhand ebenfalls abgerückt befand sich die Gärtnerei mit Gewächshaus und Wohnhaus des Gärtners. So ergab sich ein gefällig anmutender, großer Empfangsbereich. Das war der erste Eindruck, der sich dem Besucher der Anstalt bot. Trat man die breiten Steinstufen des Verwaltungsgebäudes empor, kam man durch die mächtige Eingangstür in eine mit bunten Bodenplatten ausgelegte Vorhalle, in der sich gleich rechts die Pförtnerloge befand. Dort befanden sich auch die Telefonzentrale und die Poststelle. Links gegenüber war das Sekretariat des Direktors. Die Vorhalle war sehr eindrucksvoll mit Säulen, farbigen Wänden und einem neogotischen Deckengewölbe gestaltet. Von der Vorhalle kam man in einen breiten Flur mit großen Fenstern. Dort befanden sich die Anstaltsapotheke und das Labor. Links ging es zu den einzelnen Verwaltungsbüros, in das Standesamt, das Wirtschaftsbüro, das Personalbüro und ganz hinten in die Hauptkasse. Rechts hinter der Pförtnerloge befand sich die Wohnung des Pförtners, gegenüber das Röntgen- und Strahleninstitut. Die anschließende Treppenanlage führte zum hinteren Ausgang des Verwaltungsgebäudes und nach oben in den großen Saal mit Bühne und Galerie.
In dem Saal wurden Bälle, Theater- und Filmvorführungen veranstaltet. Die Obrawalder führten nach schwerer Arbeit auch ein aktives geselliges Leben. So gab es viele Vergnügungen wie Kegelfeste, Kinderfeste und Skatabende.
Ich erinnere mich noch, daß meine Eltern von schönen Veranstaltungen in diesem Saal aus den 20er Jahren erzählten. So zum Beispiel von einem Fest, wo ein, an einer unsichtbaren Schnur gezogener, leuchtender Vollmond hoch oben im verdunkelten Saal seine Bahnen zog und alle in Begleitung der Kapelle das Lied sangen: "Guter Mond, du gehst so stille..." oder wie mein Vater einen Säugling im Kinderwagen auf der Bühne mit einem großen Schnuller im Mund spielte.
Die damalige Belegschaft in Obrawalde bestand überwiegend aus jungverheirateten Leuten, die nach den schweren Jahren des 1.Weltkrieges und der nachfolgenden Inflation die Freuden des Lebens auskosten wollten.
An das Verwaltungsgebäude schloß sich das im Schweizer Stil erbaute Beamtenwohnhaus mit vier Wohnungen an.
Unser Spielplatz als Kinder war die gesamte Anstalt. Die Eingangstore vorn und hinten standen ständig offen, es gab keinen Pförtner, der sie bewachte, denn auf den Wegen in und außerhalb der Anstalt war immer ein reger Betrieb - ein Kommen und Gehen.
Kinder aus dem damals noch genannten Krüppelheim und dem Erholungsheim zogen mit ihren Schwestern auf ihren Spaziergängen hinaus in den angrenzenden Kiefernwald oder ins Schwimmbad. Dabei wurde viel gesungen.
Beim Spielen mußten wir oft den Speisehandwagen ausweichen, die das Essen von der Anstaltsküche zu den einzelnen Häusern der Kranken brachten.
In den ersten Jahren gab es noch Fleisch und Wurst, Brot und Semmeln aus der Anstaltsküche für das Personal und ihre Familien. Unsere Mutter holte mit uns in einem Beutel, in den sie unseren Namen eingestickt hatte, das bestellte Fleich und die Wurst ab.
Wir staunten mit großen Augen über die riesigen Dampfkochkessel, die dort standen. Abgerechnet wurde am Monatsersten vom Gehaltszettel der Eltern. Wir Kinder drängelten uns immer, Brot und Semmeln für die Familie abzuholen. Unterwegs bohrten wir mit dem Finger den noch frischen Teig aus den Semmeln oder aus dem Brot heraus. Zuhause gab es deswegen oft von Mutter Schimpfe. Oft und gern traten wir in den Grünanlagen mit den Füßen auf die Wasserschläuche. Dann versiegte der Wasserstrahl, der die Anlagen besprengte und Gärtner Kiesewetter schimpfte und drohte, wenn er uns erwischte. Auch im angrenzenden Kiefernwald tobten wir, bewarfen uns mit "Kienäppeln" und machten Schnitzeljagden. Es gab schöne Lichtungen und Hügel, wo wir im Winter rodeln konnten. Dabei erinnere ich mich noch gern an meine Spielkameraden Edeltraud und Erhard Hinz. Als kleine "Dreikäsehoch" sind wir, meine Schwester und ich, in den Keller eines Krankenhauses gefallen. Wir waren drei und vier Jahre alt und schauten von der Straße aus in ein geöffnetes Kellerfenster, das nur angelehnt war, bis wir das Gleichgewicht verloren und kopfüber hineinfielen. Das gab ein Geschrei, aber keiner hörte uns. Zum Glück standen ein Tisch und Stühle unter dem Fenster und meine Schwester konnte mit eigener Kraft aus dem Fenster hinauskrabbeln. Ich versuchte es auch, war aber zu klein und mein dicker Po zog mich immer wieder nach unten. Da kam ein Kranker vorbei und den bat meine Schwester um Hilfe. Petrus wurde er genannt, denn er hatte einen langen Bart wie Petrus und er hielt uns Kindern immer lange Reden von Gott. Der holte mich heraus. Dann liefen wir weinend nach Hause zu Muttern. Dieses Erlebnis hat sich bei mir tief eingeprägt, weil es mit Furcht und Schrecken verbunden war.
Wir Knirpse hatten oft viel Unsinn im Kopf aber auch viel Phantasie. So spielten wir Zahnarzt. Im Korridor, der unsere Wohnung teilte, stand ein großer Reisekorb. Darauf mußte sich der Patient setzen und den Mund weit aufmachen. Der "Doktor" schaute seine Zähne an, fragte welcher weh tut und begann seine Behandlung. Da gab es auf einmal einen heftigen Stich von unten in den Po und der "Patient" sprang entsetzt von seinem Sitz, dem Reisekorb auf, denn im Korb hatte sich ein Spielkamerad versteckt und piekte mit einer Nadel den "Patienten" in das Hinterteil. Wir gingen zu Schwester Marianne in die Spielschule (Kindergarten) und bekamen von unserer Mutter jeder eine kleine lederne Frühstückstasche umgehängt, worin sie als Proviant ein Butterbrot und eine kleine Flasche mit Milch hineingelegt hatte. Später gingen wir zu Lehrer Stolpe und Lehrer Gaumer in Obrawalde in die Schule, die ersten vier Grundschuljahre. 1935 zogen wir von Obrawalde fort. Ich war damals 12 Jahre alt und kam nach Schlesien in die große Stadt Breslau, wo ich mich nur sehr schwer einlebte.
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