Der Altkreis Meseritz als historische Einheit
Dr. Wolfgang Kessler

Karte der Kreise Meseritz, Schwerin und PosenVerwaltungseinheiten wie Städte, Landkreise oder Gemeinden bestimmen die Raumwahrnehmung und das Zugehörigkeitsbewußtsein. Kommunalreformen werden zumeist nur widerwillig und nach langer Zeit akzeptiert.
Erinnert sei nur an die in manchen Fällen seit kurzem mögliche Wahl alter, nach solchen Reformen abgeschaffter Autokennzeichen. Gemeinden, Städte und Landkreise sind, auch wenn sie sich an geographischen Gegebenheiten orientieren, keine natürlichen Ordnungen des Raums, sondern mit Überlegung geschaffene politische und Kommunikations-Strukturen.

In der polnischen Adelsrepublik bildete das Gebiet, das später der Kreis Meseritz umfassen sollte, eine Starostei im durch den Adel geprägten Kreis Posen. Nur der südliche Randstreifen des späteren Kreisgebiets mit Brätz und Bentschen unterstand der Starostei Bomst im Kreis Kosten.
Ein Kreis Meseritz wurde erstmals durch Beschluss des Polnischen Reichstags (Sejm) vom 2. November 1791 beschlossen, aber in der Praxis wohl nicht mehr realisiert.
Durch die Zweite Teilung Polens 1793 fiel das Gebiet der Starostei an das Königreich Preußen und wurde der neugeschaffenen Provinz Südpreussen unterstellt. Dieser mit mehr als 2100 qkm „riesig große Kreis Meseritz“ wie ihn Erhard Gebauer im Heimatgruß (153, 2000, S. 22-23, vgl. auch Heimatbuch Bd. 1, S. 13-24) mit Abdruck der Kreiskarte aus dem Jahr 1801 genannt hat, umfaßte im Wesentlichen die Kreise Birnbaum, Meseritz und Schwerin a.d. Warthe nach dem Gebietsstand vor dem Ersten Weltkrieg, allerdings ohne den Südstreifen des Kreises Meseritz mit Brätz, Bentschen und Tirschtiegel, der Teil des Kreises Bomst war.

Innerhalb des nach der Eroberung Südpreussens durch die napoleonischen Armeen 1806 gebildeten Herzogtums Warschau blieb der Kreis erhalten und wurde so 1815 in der Wiener Schlussakte dem Königreich Preußen zugewiesen. Mit der durch Preußen neu eingeführten Kreisorganisation innerhalb des neu gebildeten Großherzogtums (ab 1950: Provinz) Posen wurde dieser Großkreis Meseritz im Jahre 1818 in die Kreise Birnbaum (mit weiteren Gebietsteilen 1402 qkm) und Meseritz (1226 qkm) geteilt, dem Kreis Meseritz wurde zusätzlich der Nordstreifen des Kreises Bomst zugeschlagen, so daß Brätz, Bentschen, Groß Dammer und andere Orte bis 1945 Teil des Kreises waren.

Die katholischen Kirchengemeinden dieser Orte gehörten kirchlich weiterhin zum Dekanat Bomst und nicht, wie die Orte im übrigen Kreis Meseritz und im späteren Kreis Schwerin (Warthe) zum Dekanat Betsche.
Der Kreis Birnbaum wurde 1887 in den neuen, kleineren Kreis Birnbaum (750 qkm) und den – von der Bevölkerung her fast rein deutschen – Kreis Schwerin a.d. Warthe (650 qkm) geteilt. Die sich seit der Jahrhundertwende auf Kreisebene entwickelnde Heimatkunde hat dazu beigetragen, ein Kreisbewußtsein zu entwickeln, das die Nachbarkreise weitgehend unbeachtet ließ, obwohl Wirtschaft und Gesellschaft viele Gemeinsamkeiten aufwiesen.

1920 kamen infolge der Grenzziehung durch den Versailler Friedensvertrag Teile des Kreises Meseritz, zum Beispiel Schilln, an den Kreis Birnbaum (jetzt Miêdzychód), und – insbesondere die Stadt Bentschen, aber auch Kupferhammer – an den Kreis Neutomischel (Nowy Tomysl). Beim Deutschen Reich verblieben der Kreis Schwerin (Warthe) und zwei Drittel des Kreises Meseritz.
Diese Grenzziehung von 1920, wie ungerecht sie auch empfunden worden ist (zum Beispiel im Falle Tirschtiegels zusätzlich verschärft durch die Abtrennung der Bahnlinie und des Bahnhofs), ist auf deutscher wie auf polnischer Seite bewußtseinsbildend geworden.
In der heimatkundlichen Publizistik der Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen sind die „entrissenen“ Orte kaum beachtet worden, ausgenommen die 1927-1932 unter dem Titel „Entrissene Ostlande“ in Meseritz erschienene Beilage zur „Märkisch-Posener-Zeitung“.
Gefördert und propagiert wurde zumindest bis 1933 der „Grenzmarkgeist“, nicht die Gemeinschaft der beiden Kreise der mittleren Grenzmark, die wesentlich durch die wirtschaftlichen Folgen der Grenzziehung betroffen war, während die Berliner Politik zwar auf „Grenzzerreißungsschäden“ hinwies, in ihrer Politik der Grenzrevision aber eigentlich nur den „Polnischen Korridor“ und das östliche Oberschlesien einforderte. Die Gemeinsamkeit der deutschen Posener, die sich nach 1945 in der Gemeinschaft evangelischer Posener zusammengeschlossen haben, gründet auf der Erfahrung als Minderheit. Sie haben lange den Raum der mittleren und südlichen Grenzmark, d.h. deren historisch großpolnische bzw. Posener Teile, ausgeblendet.

Nach der Auflösung der Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen 1938 verblieben beide Kreise nicht in dem neuen, aus der nördlichen Grenzmark und den seit dem Mittelalter brandenburgischen Kreisen Arnswalde und Friedeberg (Neumark) in der Provinz Pommern gebildeten neuen Regierungsbezirk, sondern fielen an den Regierungsbezirk Frankfurt (Oder) der Provinz Mark Brandenburg und wurden damit, gemeinsames Schicksal der Kreise Meseritz und Schwerin (Warthe), Teil Ostbrandenburgs.
Wider Erwarten der unmittelbar betroffenen Bevölkerung blieb aber, anders als in Oberschlesien, nach der deutschen Besetzung Polens im Zweiten Weltkrieg die Grenze zwischen dem Reichsgau Wartheland und dem Reichsgebiet bestehen. Die 1920 abgetrennten Kreisteile verblieben in den Kreisen Grätz (statt Neutomischel) und Birnbaum (Wartheland), die Kreise Schwerin (Warthe) und Meseritz, die historisch nie Teil Brandenburgs gewesen waren, blieben bis 1945 brandenburgisch.

Die Kreise Meseritz und Schwerin (Warthe) und der Kreis Birnbaum, jetzt Miêdzyrzecz, Skwierzyna und Miêdzychód, blieben nach 1945 zunächst als entsprechende polnische Kreise in der Wojewodschaft Poznañskie bestehen, die 1920 bei Deutschland verbliebenen Kreise mit einem Sonderstatus in der „Ziemia Lubuska“, dem „Lebuser Land“.
Da dieses Gebiet für eine eigene Wojewodschaft zu klein war, wurde es 1950 mit historisch schlesischen Gebietsteilen zur Wojewodschaft Zielona Góra (Grünberg) zusammengefasst. 1954 wurden erstmals Gemeindeverbände, vergleichbar mit den Samtgemeinden in Niedersachsen, geschaffen, bei dieser Gelegenheit Paradies (Goscikowo) der Gemeinde Swiebodzin (Schwiebus) zugeschlagen, dafür Templewo (Tempel) dem Kreis Meseritz. Schwerin wurde um Murzynowo (Morrn) aus dem Kreis Gorzów erweitert. Mit Wirkung vom 1. Januar 1962 wurde der Kreis Skwierzyna (Schwerin) nach 74 Jahren aufgelöst und dem Kreis Miêdzyrzecz (Meseritz) angeschlossen.
Mit Wirkung vom 1. Juni 1975 wurden in Polen die Kreise aufgelöst und an ihrer Stelle 49 Wojewodschaften geschaffen. Das Gebiet der Kreise Miêdzychód und - bis auf den südlichen Teil mit Zbaszynek (Neu Bentschen), der zur neuen Wojewodschaft Zielona Góra kam - Miêdzyrzecz war, erstmals seit 1920, wieder in einer übergeordneten Verwaltungsinstanz vereint.

1990 wurden innerhalb der Wojewodschaften „Regionalämter“ geschaffen, die mehrere Großgemeinden zusammenfaßten. Das Amt in Miêdzyrzecz mit sechs Gemeindeverbänden nahm die zum 1. Januar 1999 durchgeführte Kommunalreform voraus, die die Abschaffung der Kreise zurücknahm: Der neue Kreis Miêdzyrzecz umfaßte im Wesentlichen das Kreisgebiet von 1962.

Die neu eingerichtete Województwo Lubuskie (Wojewodschaft Lebus) mit Sitz in Gorzów und Zielona Góra umfaßt historische Gebietsteile aus Niederschlesien, Großpolen (außer Meseritz und Schwerin auch das 1938 Schlesien zugeschlagene Fraustadt), Brandenburg und Sachsen und orientiert sich an der Grenzziehung von 1920: Das historische Stadtgebiet von Tirschtiegel ist wieder zwischen den Wojewodschaften Lubuskie (Lebus) und Wielkopolskie (Großpolen) geteilt. Der Kreis Miêdzyrzecz verlor den Gemeindeverband Zbaszynek mit Chlastawa (Chlastawe bzw. Klastawe), Dabrówka Wielkopolska (Groß Dammer), Kosieczyn (Kuschten), Rogoziniec (Rogsen) und Zbaszynek (Neu Bentschen) an den ebenfalls neuen Kreis Swiebodzin (Schwiebus). Der heutige Kreis Miêdzyrzecz mit seinen sechs Großgemeinden, wie er, die 15 Jahre kreislose Zeit in Polen nicht gerechnet, heute ein gutes halbes Jahrhundert besteht macht unter Verwaltungsaspekten Sinn, auch wenn Verwaltungsreformen immer für viele schmerzhaft ankommen.
Die Bewußtseins- und Wahrnehmungsgrenze heute in Polen besteht zwischen den Kreisen Miêdzyrzecz und Miêdzychód und - im Süden, Nowy Tomysl. Die Kreise Schwerin (Warthe) und Meseritz verbindet außer der großpolnischen Gemeinsamkeit mit Birnbaum von 1793 bis 1920 die Nachbarschaft (mit Birnbaum) über 102 Jahre in der Provinz Posen, über 16 Jahre in der Grenzmark Posen-Westpreußen, 7 Jahre in der Provinz Mark Brandenburg. Sie verbindet die Patenschaft des Kreises Paderborn.
Auch wenn in der Erinnerung 70 Jahre Kreisgrenze zwischen Birnbaum und Meseritz und 87 Jahre zwischen Schwerin und Meseritz trennen, sollte der Blick auf die gemeinsame Geschichte seit dem Mittelalter nicht verstellt werden. Der Dialog über die gemeinsame Geschichte mit polnischen Partnern in der Ziemia Miêdzyrzecka, dem „Meseritzer Land“, also dem heutigen Kreisgebiet und dem gemeinsamen Herkunftsgebiet wird leichter fallen, wenn die alten Grenzen überwunden werden.

In der kleiner werdenden Zahl der in Deutschland an der Region Interessierten macht Gemeinsamkeit stärker. Und diese Gemeinsamkeit hat umso größere Zukunft, wenn sie sich der lange vergessenen, weil im Blick verstellten, gemeinsamen Geschichte einschließlich der historischen Verbindungen mit Birnbaum und den historischen Kreisteilen, die heute zu den Kreisen Schwiebus bzw. Neutomischel gehören, besinnt.
Gerade am Beispiel solcher Kleinregionen läßt sich zeigen, was ein „transnationaler“ Zugang zur Geschichte für das historische Verständnis einer Grenzregion wie im Falle Birnbaum / Schwerin / Meseritz / Neutomischel / Schwiebus leisten kann, wenn man die – in der Erfahrung generationsgebundenen – Kreisgrenzen in Köpfen überwindet. Wer offen für den Nachbarn ist, versteht auch die eigene Region besser.