Der Himmel meiner Mutter
von Olaf Müller, Klaus Kellner Verlag, Bremen,
2022Buchbesprechung

Der Himmel meiner Mutter
von Olaf Müller,
Klaus Kellner Verlag, Bremen, 2022


Gelesen von Judith Schewe


Was ein Menschenkind aushält
Wusste Olaf Müller, was ihn erwartet, wenn er seine Mutter nach ihren Fluchterlebnissen fragt, wenn er daraus einen Roman machen will, wenn er wirklich alles wissen will über ihre Kindheit und Jugend?
Alles beginnt für ihn 2006 mit den ersten Gesprächen und 2007 mit einer Reise in die alte Heimat seiner Mutter zusammen mit seiner Schwester. Seine Mutter Maria will diese Reise nicht mitmachen. Und es wird Jahre dauern, bis aus den Erzählungen der Mutter ein fertiger, druckreifer Roman geworden ist. Wie viele Tränen, wie viele schlaflose Nächte waren das wohl für Maria, aber auch für den Autor?
Mich hat dieser Roman emotional tief bewegt. Maria erzählt ihre Geschichte im Präsens, kein Rückblick in altmodischem Stil, sondern ein Bericht mit jetzigem Wortschatz, mit Formulierungen, wie sie heute üblich sind. Das verwirrt manchmal ein wenig, denn zu Beginn des Krieges ist Maria erst neun, als es zur Dienstverpflichtung kommt, im Januar 1945, ist sie 14.

Bis zu ihrer Fahrt nach Hirschberg lebt sie ein durchschnittliches, normales Leben im beschaulichen Neurode in Niederschlesien. Wenn man es denn normal nennt, dass ihre Mutter nach ihrer Geburt starb, dass sie eine recht harsche Stiefmutter hat, viele Geschwister, später den Vater im Krieg, die Brüder auch. Eigentlich ist nichts so ganz beschaulich, aber Maria hat gute Freundinnen und eine liebe Oma und außerdem die „Patin“. Die Schilderungen ihrer weitgehend friedlichen Kindheit, Kinobesuche und andere schöne Erlebnisse machen trotzdem schon beim Lesen traurig, weil man natürlich weiß, dass das Schicksal für Maria und ihre Familie eine andere, schreckliche Zukunft vorsieht.

Alles Schöne und Vertraute bleibt von einem zum anderen Tag zurück, als Maria zum Landdienst in Hirschberg verpflichtet wird. Sie nimmt Abschied von der Stiefmutter, erstmals entsteht so etwas wie Nähe zwischen beiden, doch der Moment währt nur kurz. Aber auch in dieser Einrichtung findet sie Freundinnen und sie findet sich mit ihren 14 Jahren plötzlich als Hausmädchen, Kindermädchen, Landarbeiterin wieder, wird ausgebeutet und ist trotzdem stolz, dass sie das alles schafft, was die Bauern von ihr verlangen.
Im Hintergrund kommt die Front immer näher, auch die Angst vor den Russen, als bereits Geschützdonner zu hören ist und sich der Himmel rot färbt, beschließt die Gruppenführerin Anneliese, mit den 20 Mädchen – Maria ist die Jüngste – und jungen Frauen und einem kleinen Lastwagen auf die Flucht nach Westen zu gehen. Zu Beginn haben alle noch Kleidung zum Wechseln, Lebensmittel, Wasser, noch sind Benzinkanister da und auch Verbandzeug. Noch.

Sie haben Begegnungen mit anderen Flüchtlingen, Wehrmachtsangehörigen und Feldjägern. Irgendwann sind sie bis aufs nackte Leben alles los. Was ihnen bleibt, ist der Zusammenhalt der Gruppe und die robuste, willensstarke Anneliese, ohne die die 20 wohl niemals bis ins verheißene Sachsen gekommen wären, wo Arbeitsstellen in Aussicht stehen sollen.
Was in den Monaten der Flucht passiert, wie Maria all das erlebt, was sie erleidet und überlebt, das muss bitte jeder selbst lesen. Unbedingt!

Dass diese Geschichte gut ausgeht, weiß man, sonst hätte Maria sie nicht erzählen können. Mich hätte am Schluss im Nachwort dann aber doch interessiert, wie Marias Lebensweg nach 1946 verlaufen ist, hat sie ihre Schwester in Berlin gefunden, die anderen Geschwister, den Vater, die Stiefmutter, ehemalige Freunde jemals wiedergesehen? Konnte sie noch einmal zur Schule gehen, konnte sie einen Beruf erlernen oder gar studieren? Wie hat sie die Erinnerungen an die Flucht verarbeitet? Haben Ehemann und Kinder ihr angemerkt, welch schweres Gepäck sie auf der Seele durchs ganze Leben trug?

Ich hätte in diesem Buch gern ein paar Fotos gesehen von Maria, ihrer alten Heimat, ihrer Familie und auch eine kleine Landkarte, die den höllischen Fluchtweg aufzeigt, wäre hilfreich gewesen. Nicht jeder hat so eine Karte vor Augen oder kennt sich in Niederschlesien, Tschechien oder Sachsen gut aus. Ich war zwar im letzten Urlaub im schönen Niederschlesien, auch in Hirschberg und bei Waldenburg, von Neurode habe ich jedoch keine Kenntnis gehabt. Mit diesem Buch hat sich das geändert.
Ich habe die geschilderten Ereignisse mit meiner Familiengeschichte verglichen – auch meine Mutter musste mit knapp 18 Jahren aus Christianstadt (das ist ca. 125 km nördlich von Hirschberg), wo sie kriegsdienstverpflichtet war, flüchten. Eine so detaillierte Erzählung über ihre Erlebnisse hat sie niemals an mich weitergegeben, auch ihre Flucht dauerte dreieinhalb Monate und viele Hundert Kilometer im Zickzack. Auch meine Großmutter und der Urgroßvater waren von Meseritz in Ostbrandenburg wochenlang in Richtung Mecklenburg unterwegs. Und ich kenne viele, die solche Fluchtgeschichten in der Familie haben, sei es mein Ehemann oder ehemalige Kollegen. Die Generation der Nachkriegskinder trägt dieses Trauma in sich, egal, ob sie es weiß oder wahrhaben will oder einfach ignoriert. Gerade deshalb finde ich dieses Buch so hilfreich, denn so detailliert schildern nur wenige Vertriebene das Geschehene. Im Osten Deutschlands wurden die Heimatvertriebenen übrigens „Umsiedler“ genannt, was nach kommunistischer Lesart wohl ein besserer Status war. Für die Worte alte, verlorene Heimat, Flüchtling, Vertriebener war im kommunistischen Denken kein Platz, ebenso wenig wie für die Benennung der Kriegsverbrechen und Vergewaltigungen der „Freunde“, wie man im Osten Deutschlands die sowjetischen Armee-, NKWD-, später KGB-Angehörigen nannte. Zynismus par Exzellenz.

Für mich ist dieses Buch gerade in der heutigen Zeit, mit einem Krieg, der Menschen in der Ukraine zu Flüchtlingen macht, zu Opfern russischer Gewalt und entfesselter Soldaten und Offiziere, ungeheuer wichtig. Was Maria geschehen ist, das ist etwas, das jedem Kriegsopfer jederzeit und überall wieder geschehen kann.

Ich würde es gut finden, wenn dieses Buch auch als E-Book erscheinen würde, noch mehr würde ich mich freuen, dieses Buch als Hörbuch noch einmal hören zu können.