JUBILÄUM
100 Jahre Inge Dümchen geb. Homann aus Meseritz
Fotos und Text: Henning Krentz


Inge Dümchen (98. Geb. - 2020)„Warum der liebe Gott gerade mich, die kleine Inge Homann aus der Lindenstraße in Meseritz ausgesucht hat, so alt zu werden, ich weiß es nicht“, sagt unsere Mutter, wenn sie von ihrer Jugend berichtet.
Am 20. Juni 1922 wurde sie geboren und verbrachte ihre Kindheit und frühe Jugend sie zusammen mit vier Geschwistern in Meseritz. Ihr Vater, Richard Homann, hatte in der Lindenstraße 9 eine Tischlerei im eigenen Haus. Mutter Marie Homann, geb. Bohne aus Weißenfels, lernte er während seiner Gesellenzeit in Berlin kennen. In Meseritz gründeten beide ihren eigenen Hausstand. Doch wie alles so kam, wie es heute ist, das lassen wir unsere Mutter doch am besten selbst erzählen. 100 Jahre voller Erlebnisse aufzuschreiben, ist sicher eine Herausforderung. Versuchen wir es!



Inge Dümchen im Interview:
„Ich hatte eine herrliche Kindheit in Meseritz! Alle meine Freundinnen von damals begleiteten mich bis ins hohe Alter, wir hielten immer zusammen. Susi Hecker, Traudchen und Hella Sperling sowie Dorle Schelske – gemeinsam spielten wir in unserer Lindenstraße. Die Familie Hecker hatten etwas Besonderes in ihrem Haus – nämlich ein Schaufenster. Herr Hecker war Fischer und hatte ein Aquarium mit seinen Fischen aus seinem Fang ausgestellt, damals eine Attraktion, besonders für uns Kinder. Die Sperlings betrieben eine Schneiderei und verzogen später in die Bahnhofstraße. Dort hatten sie ein Schaufenster für die Präsentation ihrer Kleidung. Familie Schelske aus unserer Straße waren sogar meine Paten.

Im Sommer vertrieben wir unsere Zeit oft auch am geliebten „Kainschtner Auge“, der kleine See vor der Stadt. Da war die Freiheit grenzenlos!“ Übrigens eine kleine lustige Ergänzung „Kainschtner Auge“. Wo der Name herkommt – wir wissen es nicht. Als Familientradition aber lebt dieser kleine Teich vor der Stadt auch heute noch bei uns fort. Man isst in Brandenburg sehr gerne Pellkartoffeln mit Quark und Leinöl. Bei der Familie Homann war es wohl Tradition den Quark auf dem Teller mit einer kleinen Kuhle herzurichten und darin dann das gute Leinöl zu gießen. „Ich mach mir ein Kainschtner Auge hieß es dann bei Tisch. Das wird sogar heute noch bei uns so gehalten. So leben kleine Rituale fort“.

Wie war denn so Euer Haus? Wie habt ihr dort gelebt?
„Also ich hatte mit meiner Schwester Gertrud ein eigenes Zimmer mit einem großen Bett. Hat unser Vater selbst gebaut, wie überhaupt alle unsere Möbel – er war ja Tischler! Unser Bruder Manfred, der leider früh mit einer Blinddarmentzündung verstarb, war für sich. Wir wohnten oben und unten waren die anderen Zimmer. Außerdem waren noch weitere Räume vermietet an eine Familie und einen Gesellen. Eine Toilette im Haus kam erst später. Auch ein Bad wollte Vater noch einbauen. Die Badewanne war schon erworben, stand bei uns bereit, doch der Krieg machte diese Pläne zunichte“.

Was habt ihr denn so angestellt? Wart ihr auch Schlittschuhlaufen oder baden?

„Ja klar ging es im Winter auf das Eis. Aber nicht auf die Obra, die fror nur selten zu. Wir nutzten die überschwemmten Wiesen, da konnten wir nicht einbrechen. Im Sommer ging es in die Badeanstalt an der Obra. Schwimmen war und blieb bis heute nicht so mein Ding aber baden hat immer Spaß gemacht. Auch von der Schule aus gab es Ausflüge zur Badeanstalt. Schwimmunterricht, ganz modern, ist keine Erfindung von heute“.

Hattest Du ein eigenes Fahrrad?
„Nein, ein eigenes Fahrrad hatte ich nicht. Traudchen Sperling hatte eines. Darauf haben wir alle gelernt. War aber etwas komisch, denn es hatte keinen Freilauf. Man musste also immer treten, ob man wollte oder nicht. Später als Lehrling in der Molkerei bekam ich einen Bezugschein für ein Dienstrad. Das war günstig, denn es war schon jeden Tag recht weit; die Molkerei war weiter draußen. Obwohl von der Firma angeschafft, hat mich das Fahrrad aber dennoch 100,00 RM Eigenanteil gekostet.

Seid ihr denn auch mal im verreist?
„Nein solch eine Reiserei wie heutzutage gab es damals nicht, ein Reisebüro hätte früher nicht viel verdient. Vater war selbstständig, die Kunden hätten für Betriebsferien kein Verständnis gehabt. Meine Ausflüge beschränkten sich auf Ferienerlebnisse. Unser älterer Geselle, Herr Lalasch, war aus Landsberg. Dorthin durfte ich an den Wochenenden manchmal mit im Sommer. Das war sehr schön, er hatte eine nette Familie. Landsberg hat mir sehr gefallen. Ich habe dort viel sehen bzw. lernen können.

Wie war denn Deine Schulzeit?
„Wie viele andere besuchte ich die Mittelschule in Meseritz, von 1927 bis 1938. Eigentlich war ich noch nicht dran, war ja erst fünf Jahre alt. Da aber Susi Hecker zur Schule kam wollte ich unbedingt mit. Wir sagen mal so: ich habe mich da so durchgeschleust, habe der Schule nicht so viel abgewinnen können, vor allem nicht der Mathematik. Mein Lieblingsfach war Musik bei Herrn Spohrs. Ich habe sehr gerne und gut Flöte gespielt, hatte eine „Eins“. Seine Familie wohnte in unserer Straße. Ich habe öfter auf ihre kleine Tochter aufgepasst. Auch dem Zeichnen gehörte meine Leidenschaft. Herr Wolf, unser Lehrer, war sehr gerecht. Einmal sollten wir unsere Lieblingsblumen zeichnen. Ich wählte die Rose und begann sorgfältig die einzelnen Blättchen zunächst mit dem Bleistift zu zeichnen. Er stand irgendwann neben mir, begutachtete so mein Tun und meinte: „aber Homann, das ist doch zu schwer für dich.“ Ich machte aber weiter und siehe da zum Schluss stand unter meinem Werk ein „sehr gut“. Auch später habe ich immer gerne für mich musiziert oder gezeichnet“.




Wie kam es denn zu Deinem Beruf?

„In den letzten Schultagen 1938 organisierte unser Lehrer Herr Wolf zu unserer Vorbereitung auf das Berufsleben eine Besichtigung der Molkerei.
Der dortige Chef, Herr Prill, führte uns durch alle wichtigen Stationen des Hauses. Für das Labor würde er gerne einen Lehrling einstellen wollen, gab er bekannt. Das war wohl für mich die Initialzündung, denn schon am Nachmittag ging ich ganz allein ohne häusliche Abstimmung dorthin, bewarb mich und hatte den Job.
Drei Jahre dauerte die Ausbildung und es war eine wunderbare Zeit. Ich war dann Molkereilaborantin. Die tägliche Arbeit hat mir viel Freude bereitet und auch heute würde ich den gleichen Schritt nochmal gehen“.

Und wie kamst Du nach Neuruppin?
„Als mein Arbeitsdienst und Kriegshilfsdienst vorbei waren, benötigte ich natürlich eine Stelle. Man schrieb inzwischen schon das Jahr 1943. In Neuruppin war in der dortigen Molkerei eine Stelle frei. Ich bewarb mich und bekam den Zuschlag. So kam ich dann dorthin und war sehr froh dort, es war eine gute Zeit. Ein kleines Zimmer zur Untermiete, ja ein Bad gab es zur Mitbenutzung auch. Die Zeiten waren nicht glorreich, aber trotzdem gut.
Und es kam, es wie es kommen sollte: Als 1945 alle auf die Flucht gehen mussten, war ich der sichere Hafen, den sie anliefen. Mutter und meine drei Schwestern kamen nach Neuruppin und noch weitere Bekannte. So war ich, die kleine Inge, für uns alle der Wegbereiter in eine neue Zukunft. Unser Vater kam nicht mit. Er brachte es nicht übers Herz, sein Lebenswerk: Haus, Hof und Werkstatt zu verlassen. Wir haben ihn nie wieder gesehen. Ja und was natürlich für euch wichtig ist: euer Vater und ich haben uns dort in der Neuruppiner Molkerei kennen gelernt und wurden ein Paar“.

Und nun wohnst Du in Rheinsberg seit über 70 Jahren. Ist es dir Heimat geworden?
„Anfang der 50 Jahre sind wir von Neuruppin nach Rheinsberg gegangen. Dort hatte euer Vater die Chance als selbstständiger Fuhrunternehmer eine eigene Existenz aufzubauen. Natürlich ist Rheinsberg meine Heimat geworden aber die Heimat der Kindheit kann niemand ersetzen. Ich habe mein Lebensglück hier gefunden. Unser Haus hat euer Vater damals selbst gebaut. Die Gegend um Rheinsberg erinnert mich an unser Meseritz, der Wald, die Seen die Stadt mit dem Schloss - hier ist unsere Familie zu Hause. Ihr alle seid hier aufgewachsen, zur Schule gegangen und habt von hier aus Euren Weg ins Leben gefunden. Ich bin für alles dankbar und genieße jetzt noch jeden Tag. Meine Devise ist und bleibt immer fröhlich bleiben und stets voran schreiten!“.


So hat uns unsere Mutter ihre Geschichte erzählt und so haben wir alles aufgeschrieben, weil wir ja selbst Teil ihrer Geschichte sind. Wir, das sind vier Geschwister: Heide, Eva, Wolfgang und Thomas. Genau wie unsere Hundertjährige haben wir eine sorglose und glückliche Kindheit im Hause unserer Eltern verleben können.
Unser Vater Kurt Dümchen betrieb mit seinem eigenen LKW ein kleines Fuhrunternehmen und sorgte täglich dafür, dass die Milch von den umliegenden Dörfern zur Molkerei gelangte. Unsere Mutter führte das Haus. Ihre stets sorgende Hand und ihre Güte waren und sind noch heute unser Leitfaden für ein zufriedenes Leben. Nebenbei hatten wir einen großen Garten am Haus, der uns mit allem versorgte aber auch ständig Arbeit bescherte. Und unser Hof, mit dem vielen LKW-Zubehör, war nicht nur für uns ein großer Abenteuerspielplatz.

Inzwischen sind wir in ein eigenes Leben eingetaucht. Unsere ältere Schwester Heide haben wir leider nicht mehr bei uns. Mein Mann Henning und ich leben in Potsdam. Hier haben wir unsere beruflichen Leben gestalten können und wohnen im eigenen Haus mit Garten. Zwei große Söhne gehen auch längst ihren Weg, haben teils selbst schon Kinder.

Meinen Bruder Thomas hat es beruflich bedingt in den Süden Deutschlands verschlagen. Mit seiner Frau Heike genießen nun auch sie dort ihren wohlverdienten Ruhestand. Ihre zwei Kinder runden den Enkelreigen unserer Mutter ab. Wenn es auch ein weiter Weg ist, so besuchen wir uns doch regelmäßig. Letztlich bescheren uns auch die neuen Medien Möglichkeiten, stets am Leben der anderen teilhaben zu können.
Ferien in Rheinsberg bei Oma waren für unsere Kinder stets der Höhepunkt jeden Sommers. Alle haben sich gut verstanden und Oma hat ihre vier Enkel nicht nur gut versorgt, sondern ständig erfolgreich bespielt. Für sie sicher ein Kraftakt – für die Kids aber unvergessene und noch heute geliebte Kindheitserinnerungen.
Unser Bruder Wolfgang wohnt heute in unserem Haus in Rheinsberg. Er betreut mit seiner Frau Kerstin nicht nur unsere Mutter, sondern hat Haus und Hof der Familie zu neuem Glanz verholfen. Wir besuchen uns alle oft gegenseitig und genießen die lange Zeit, die uns mit unserer Mutter vergönnt ist.

Und mit inzwischen schon fünf Urenkeln hat die Geschichte Dümchen / Homann längst eine neue Fortsetzung erhalten. So ist denn letztlich alles rund. Es ist wunderbar zu begreifen, wie Geschichten zu Geschichte werden und wir alle inmitten dieses ständigen Laufes der Zeit unseren Platz einnehmen und darin ein kleines, aber wichtiges Rädchen sind.