Wanderungen um Meseritz und in Nachbargebieten der Kreise Schwerin, Bomst und Oststernberg





Buchbesprechung
Neuauflage 2021:
„Wanderungen um Meseritz und in Nachbargebieten der Kreise Schwerin, Bomst und Oststernberg“ von 1936


Im Heimatgruß Nr. 237 wurden zwei Buchbesprechungen zu der Neuauflage „Wanderungen um Meseritz und in Nachbargebieten der Kreise Schwerin, Bomst und Oststernberg“ veröffentlicht - ein auch für die Redaktion relativ seltener Fall, das direkt zwei Rezensenten sich eines Werkes annehmen.
Die recht langen Texte von Dr. habil. Marceli Tureczek und Dr. Wolfgang Kessler wurden im HGr. 237 in einer gekürzten Fassung veröffentlicht - hier präsentiert die Redaktion die Langfassungen.




Dr habil. Marceli Tureczek,
Universitätsprofessor Uniwersytet Zielonogórski


Über einen Umgang mit der Geschichte des Meseritzer Landes.
Aus Anlass eines 2021 neu gedruckten Reiseführers aus dem Jahr 1936.


Anfang 2021 gab Steffen Großpietsch, ein in Bezug auf Meseritz bislang unbekannter Autor, eine „Neuauflage” der 1936 in Frankfurt (Oder) veröffentlichten „Wanderungen um Meseritz und in Nachbargebieten der Kreise Schwerin, Bomst und Oststernberg”, nach heutigem Gebietstand durch den Kreis Miedzyrzecz und Teile der Kreise Zielona Góra und Sulecin, heraus. Den Neudruck des bei Regionalforschern in Meseritz bekannten Reiseführers unter dem leicht veränderten Titel „Historische Wanderungen durch Meseritz und die angrenzenden Kreise der mittleren Ostmark” kündigte Großpietsch außer auf der Website des Verlags BoD–Books on Demand auch auf der polnischen Facebook-Seite "Powiat Miedzyrzecki – historia i wspólczesnosc" [Der Meseritzer Kreis – Geschichte und Gegenwart] an.
Auf dem von der Originalausgabe übernommenen Buchumschlag erscheint Großpietschs Name, so dass man ihn für den Autor halten könnte, während auf dem Titelblatt der angeblich „völlig überarbeiteten Neuauflage” zu lesen ist „herausgegeben von Steffen Großpietsch”, nicht aber „Marie Matthias und andere” als Autor(inn)en und „Dr. R. Ehrhardt, Frankfurt (Oder)” als „Bearbeiter”.

Die Ankündigung der Publikation mit dem Umschlagbild der Originalausgabe, einem Aquarell der Kirche in Klastawe, erregte meine Aufmerksamkeit.1 Die Publikation aus dem Jahre 1936 war, was betont werden muss, im Inhalt gemäßigter als die meisten damals in Deutschland erschienenen Veröffentlichungen über das Grenzgebiet mit Polen, die zumeist nach dem Vorbild des „Heimatbuchs” von Franz Lüdtke „Grenzmark Posen-Westpreussen” (1927) die Revision der 1919 in Versailles festgelegten Grenze und die Rückgabe damals abgetretener Gebietsteile Großpolens und Westpreußens forderten und die Existenzberechtigung des polnischen Staates anzweifelten.
Die Mäßigung im Ton war eine Folge der kurzen Entspannungsphase zwischen dem Deutschen Reich und Polen nach der gemeinsamen Nichtangriffserklärung vom 26. Januar 1934. Das heißt jedoch nicht, dass die deutschen Revisionsforderungen 1936 im Text des Wanderführers keine Rolle gespielt haben.

Deshalb einige Überlegungen zur Neupublikation 2021: Mein Haupteinwand ist, dass der Text ohne jeden kritischen Kommentar und ohne jede Erläuterung neu gedruckt worden ist. Stattdessen bewerben die Verlagsseite2 und der Werbetext auf dem Buchrücken das Werk als idyllische und romantische Beschreibung einer verlorenen Region: „Ein Buch, das uns förmlich in die Vergangenheit der deutschen Ostmark zurückkatapultiert, im Zentrum steht die Stadt und der Kreis Meseritz, sowie die angrenzenden Kreise, samt ihrer wechselhaften Geschichte, Kultur und einzigartigen, bezaubernden Landschaft. Angefangen bei der landschaftlichen Entstehungsgeschichte, über Burgunder und Wandalen, Ringwällen, Burgen und Schlössern, erfahren wir von den deutschen Siedlern, den Grenzschutzkämpfen, der unbarmherzigen Teilung des Landes nach dem Ersten Weltkrieg.”
In der Verlagswerbung heißt es weiter: „Vorgestellt werden die bekanntesten Söhne der Stadt, deren Handeln Einfluß auf die ganze Region nahm und teils darüber hinaus. Erfahren wir auch die Entstehungsgeschichte des größten und modernsten Grenzbahnhofes im Osten, sowie die des neu gegründeten Ortes Neu Bentschen. Hören wir von romantischen Holzkirchen, von Flurnamen und Ortsbezeichnungen, die heute keiner mehr kennt. Besuchen wir zahlreiche Seen, durchstreifen die Wälder, die so manches Geheimnis bergen, begeben wir uns in die Welt der alten Sagen, an der die Region keinerlei Mangel hat. Unternehmen wir Paddeltouren auf der Obra, auf der Packlitz, auf der Warthe und beobachten wir Flora und Fauna, wie sie unsere Ahnen noch zu sehen bekamen.”
Zur Zielgruppe schreibt der „Herausgeber”: „Dieses Buch ist gleichermaßen geeignet für die ehemaligen Einwohner der Grenzmark und Ostbrandenburgs, wie für Geschichtsinteressierte und Heimatforscher, sowie allen Freunden des deutschen Ostens, die die Heimat im Herzen tragen. Aber es bietet auch der Jugend von heute die Möglichkeit, unverfälschte Geschichte wahrzunehmen.”

Selbstverständlich haben, wie ich schon oft in meinen Vorträgen betont habe, die Deutschen ein Recht auf ihre Geschichte und ihr Gedächtnis, auch auf die Geschichte der Gebiete, die seit 1945 zum polnischen Staat gehören und in denen heute polnischen Staatsbürger leben. Auch wenn diese Vergangenheit Diskussionen provoziert, denke ich, dass es hier im früheren Grenzland, besonders was die Zwischenkriegszeit betrifft, noch lange schwierig sein wird, einen gemeinsamen und versöhnlichen Blick auf die Vergangenheit zu finden. Auch wenn seit dem Ende des Ersten Weltkriegs mehr als hundert Jahre vergangen sind, belastet das Stigma des darauf folgenden Weltkonflikts noch immer die bilateralen Beziehungen – auch auf lokaler Ebene, obwohl sich in diesen Beziehungen viel Gutes entwickelt hat.
Und deshalb haben die heutigen polnischen Bewohner und die Deutschen, die früher hier gelebt haben – heute immer öfter die Nachkommen der ehemaligen Bewohner – die Verpflichtung, die nach 1989 entstandenen Beziehungen, die nach dem totalen Bruch 1945 fast aus dem Nichts aufgebaut wurden, im Geiste des gegenseitigen Verständnisses und der Auseinandersetzung zu vertiefen. Nur solche Kontakte werden, resistent gegen die aktuelle Politik, uns Polen und Deutsche vor weiteren Tragödien bewahren.

Was die „unverfälschte Geschichte” betrifft, kommen Zweifel. Denn wenn man die „Neuausgabe” mit dem Original vergleicht, ist leicht zu erkennen, dass sich beide nur geringfügig unterscheiden. Großpietsch hat nur wenige Passagen mit Direktbezug auf das „Dritte Reich” verändert. Fast unverändert, allerdings ohne Nennung des Verfassers, des NSDAP-Aktivisten Martin Albrecht, übernimmt er die Einleitung mit dem Dank an den „Bund Deutscher Osten” (BDO), der Revisionismus und Nationalismus propagierenden zentralen NS-Ostorganisation, nach Josef Wagner, dem Gauleiter Schlesiens, die Hauptorganisation im Kampf gegen „das Polentum”. 1934 forderte Wagner vor BDO-Mitgliedern, dass Schlesien vergessen sollte, was Polen und Polentum seien. Der BDO solle gegen polnische Namen und Inschriften kämpfen, er selbst habe seine eigene Mutter wegen ihrer polnischen Herkunft aus dem Haus geworfen.
Die Danksagung an den BDO hält Großpietsch bei, dagegen ersetzt er die Hinweise auf die „Hitlerjugend” (HJ), den „Bund Deutscher Mädel” (BDM) und andere NS-Organisationen durch „viele weitere Verbände“. Ist das „unverfälschte Geschichte”? Waren ihm Funktion und Zweck des BDO nicht bekannt? Schon dessen Symbol, das Deutschordensschild mit Hakenkreuz, sagt viel aus.

Hält der Herausgeber es nicht für notwendig, darauf hinzuweisen, dass viele der genannten historischen Fakten, selbst wenn man die Propaganda beiseite lässt, nicht mehr dem Stand der polnischen und der deutschen historischen Forschung entsprechen? Der unkommentierte Neudruck perpetuiert einen überholten Wissensstand. Was heißt im Jahr 2021 im leicht geänderten Vorwort „[...] nationaler Dienst am ostmärkischen Grenzland” [!]?
Die Neuausgabe entspricht fast wortgetreu der Vorlage von 1936, die ein idyllisches Land der Wälder, Seen und Kanustrecken durch das Prisma einer ausschließlich deutschen Geschichte beschreibt, wenn sie die Folgen des Ersten Weltkriegs, die durch „Friedensdiktat” und Grenze bedingte wirtschaftliche Not beschwört.

Sie benutzt Propagandaslogans des Dritten Reichs: „[...] Der urdeutsche Charakter ist unserer Landschaft erhalten geblieben [...]” (S. 14). Hier summen sogar die Wälder von germanischer Vorgeschichte... Gebettet ist das Ganze in das für die Zwischenkriegszeit charakteristische Bild von Ewigkeitsrechten und Kulturleistung der Deutschen im Osten. Der Leser erfährt nicht, dass es sich hier um ein typisches Grenzgebiet handelt, in dem jahrhundertelang verschiedener Ethnien gelebt haben: Es gab Deutsche, aber es gab auch Polen und – 1936 mit keinem Wort erwähnt – Juden. Eher beiläufig wird erwähnt, dass das Gebiet bis 1793 Teil Polens gewesen ist (S. 24), Wir erfahren (S. 33), dass die Burg Meseritz keine slawisches, sondern ein „deutsches” Bauwerk sein sollte. Schon diese Gegenüberstellung lässt Zweifel an den referierten Fakten aufkommen, die auch bei einem Wanderführer zuverlässig sein sollten.

Welchen Sinn macht es, solch ein Buch im Jahre 2021 noch einmal herauszugeben? Ist das „unverfälschte Geschichte”? Will der Herausgeber durch die unkritische Wiedergabe eines in Deutschland und in Polen überholten, zudem nicht originären, auf ältere Publikationen zurückgehenden Wissensstands polnisch-deutsche Kontroversen wiederbeleben? Steffen Großpietsch hat in einer Diskussion in den sozialen Medien geäußert, die Neuveröffentlichung solle eine offene deutsch-polnische Debatte provozieren. Dazu wäre hier aber eine vom aktuellen Forschungsstand ausgehende Kontextualisierung notwendig. In der Diskussion auf Facebook erhielt Großpietschs Beitrag mehr als 200 Kommentare, die aber nach ein paar Tagen großenteils gelöscht worden sind.3

Bei der Lektüre mache ich mir Sorgen um die deutsche Leserschaft vor allem aus der jüngeren Generation, die wenig bis gar keine Kenntnis über die polnisch-deutschen Beziehungen hat. Ich weiß nicht, wie groß die Reichweite dieses Verlags in Deutschland ist – ich denke, sie ist eher gering. Aber ich frage mich, wie man in Deutschland reagieren würde, wenn man in Polen unkommentiert Bücher veröffentlichte, wie sie vor allem nach 1945 geschrieben wurden und in denen die Bedeutung der Deutschen und ihre historische Präsenz in einer Region Westpolens gezielt negiert oder diffamiert worden ist. Es würde sicherlich als Verletzung der guten Beziehungen und als Rückkehr zum Paradigma des ewigen deutsch-polnischen Antagonismus empfunden werden, das nach 1989 überwunden worden ist.
Was die polnisch-deutschen Beziehungen im Raum Miedzyrzecz betrifft, darf man die wichtigen und kreativen Aktivitäten des Heimatkreises Meseritz seit 1989 nicht übersehen. Einen zentralen Beitrag zum neuen Verständnis haben hier frühere deutsche Bewohner des Kreises geleistet. So sehen es die meisten der heutigen polnischen Bewohner der Ziemia Miedzyrecka. Die seit 1989 entstandene Zusammenarbeit – auch mit den Partnerstädten und Partnergemeinden – bot und bietet für beide Seiten ein wichtiges Forum des Meinungsaustausches. Heute sind die ehemaligen deutschen Bewohner in gewisser Hinsicht Teil der heutigen Gemeinschaft. Niemand in Miedzyrzecz stellt dies in Frage.

Hier sei an die symbolträchtige Geste aus dem Jahr 1995 erinnert, als auf dem früheren evangelischen Friedhof in Miedzyrzecz frühere und heutige Einwohner der Region, vertreten durch einen großen Freund der Ziemia Miedzyrzecka, Konrad von Tempelhoff, auf deutscher Seite und den damaligen Bürgermeister von Miedzyrzecz, Wladyslaw Kubiak, sowie zahlreiche andere Gäste gemeinsam einen Gedenkstein enthüllten.4
Es gab noch mehr solcher Gesten, auch in meinem Dorf Wyszanowo (Wischen), wo bereits seit 1993/1994 die Bewohner des Dorfes ohne Kameras und Internet aus eigener Initiative durch ein zweisprachiges Mahnmal an die Ruhestätte der bis 1945 dort lebenden Deutschen erinnern. Als Bewohner dieser Region, die in der Vergangenheit von der Erfahrung einer schwierigen Nachbarschaft geprägt worden, frage ich mich, wie es um das Erbe dieser Gesten bestellt ist. Die unveränderte Danksagung an den „Bund Deutscher Osten” im Vorwort zeigt, dass es innerhalb dieser Beziehungen weiterhin Aussagen Einzelner gibt, die unwillkürlich Beklemmung hervorrufen.
Haben die letzten 30 Jahre Dialog wirklich den Blick auf die Vergangenheit verändert? Wie ist das Bewusstsein für diesen Dialog auf polnischer und auf deutscher Seite? Vielleicht sollte diese Veröffentlichung als unbedeutende Episode betrachtet werden? So möchte ich es sehen! Oder haben wir es vielleicht mit einer Krise zu tun, mit Gleichgültigkeit?

Wir leben in Zeiten, in denen Zeitzeugen immer weniger werden, wenn sie überhaupt noch zu finden sind. Es wird immer einfacher, Geschichte zu schreiben, ohne deren historische Erfahrung zu berücksichtigen. Bei der Beschwörung der Vergangenheit wird gerne die jüngere Generation, „die Jugend“, genannt, in vielen Reden soll sie Garant für das Verstehen und Vergessen von Schuld sein... Dazu muss aber die junge Generation die Möglichkeit einer fundierten und ideologiefreien Bildung haben. Deren Fehlen – in Polen wie in Deutschland – verstärkt früher oder später die Gefahr, dass historisches Unrecht für aktuelle Politik instrumentalisiert wird. Je mehr solche Bildung fehlt, desto weniger wehrt sich eine Gesellschaft gegen Manipulationen.
Der Zweite Weltkrieg, der die polnisch-deutschen Beziehungen mit einer großen Tragödie und mit Feindseligkeit geprägt hat, ist immer öfter eine ferne Erinnerung oder nur Buchwissen. Mancher wird sagen, dass dies gut ist, dass es an der Zeit sei, diese Geschichte den Historikern zu überlassen. Als Historiker fürchte ich jedoch, dass Geschichtserzählung ohne Zeitzeugen auf trockene Fakten reduziert wird, bestenfalls zum attraktiven Spektakel in sozialen Medien, zu Rekonstruktion und Computerspielen wird. Dies gilt für beide Seiten. Wir in Polen sind uns selten dessen bewusst, dass die historische Bildung in Deutschland, was die Geschichte des 20. Jahrhunderts betrifft, sich gerade bezüglich des deutsch-polnischen Verhältnis auf einem relativ niedrigen Niveau bewegt, obwohl die Wissenslücken leicht zu schließen wären.

Ich denke, dass Polen und Deutsche noch lange Zeit einen unterschiedlichen Blick auf die Vergangenheit haben werden, vor allem, wenn es um das 19. und 20 Jahrhundert geht. Vielleicht ist unsere Nachbarschaft, abgesehen von der Geschichte selbst, auch in ihrer Genese so konstruiert? Vielleicht muss es so sein? Aber ich denke auch, dass die Erfahrungen der letzten dreißig Jahre die Notwendigkeit von Verantwortung und Debatten über das, was gewesen ist und das, was kommen wird, erzwingen, denn die Geschichte kann ebenso lehrreich wie gefährlich sein.
Die in vielen Sätzen des unverändert neugedruckten Wanderführers versteckte revisionistische Propaganda, wie sie sich in der Propagierung des „deutschen Ostens“ und der „Ostmark“ im Stil des Jahres 1936 ausdrückt, ist verbal nicht besonders aggressiv. Es entsprach dieser Zeit, dass über Dabrówka (Groß Dammer) dort nur zu finden ist, dass dort ein „viertürmiges Schloss“, damals schon Jugendherberge, stand (S. 75) und man ein urgermanisches, „wandalisches Gefäß” gefunden hat (S. 82). Vergeblich sucht man einen Hinweis, dass Groß Dammer und Umgebung die Region mit dem höchsten Anteil polnischsprachiger Bevölkerung im damaligen Kreis Meseritz war.
Ein wenig sachkundiger Leser könnte den Band für ein normales historisch-populärwissenschaftliches Buch halten, einen unpolitischen Reiseführer aus einer vergangenen Zeit, in dem nichts Störendes zu finden ist. Solche Veröffentlichungen waren in den 1930er Jahren Teil eines geplanten Puzzles, über dessen Wirkungen man nicht schreiben muss. Gerade deshalb sollten die Gefahren, die in möglichen Wirkungen solcher Publikationen liegen, nicht aus den Augen verloren werden.

Bei seiner Rede anlässlich der Enthüllung des Gedenksteins auf dem ehemaligen evangelischen Friedhof in Miedzyrzecz sagte Konrad von Tempelhoff:
„Unsere Gedanken gehen zurück in die Vergangenheit, in die Zeiten, in denen wir Erwachsenen und Kinder, die in dieser Stadt lebten, dachten, dass die Welt gut ist. Heute ist ein Tag der Traurigkeit [...]. Die Ursache des Unglücks, das über uns hereingebrochen ist, war der Zweite Weltkrieg und die Zeit vor seinem Beginn [...]. Wir ließen uns leicht von lauten Reden täuschen, ohne über ihren Inhalt nachzudenken. Wir haben uns in die Politik des Terrors und der Kriminalität hineinziehen lassen, und alle ethischen Werte wurden mit Füßen getreten. Wenn wir uns über das Leid beklagen, das unsere Eltern erlitten haben, müssen wir über den engen Horizont hinausdenken. Auch die Polen haben ihre Heimat und ihre lieben Toten auf Friedhöfen, die es vielleicht nicht mehr gibt [...] Andere Länder, auch das vom Krieg verwüstete Polen, hatten es in den Nachkriegsjahren unvergleichlich schlechter als wir [...] Dieser Obelisk kann nur ein Stein der Versöhnung und Verständigung, ein Symbol des europäischen Gedankens sein, wenn wir Deutsche und Polen den Weg gehen [...]5.


1
Historische Wanderungen durch Meseritz und die angrenzenden Kreise der mittleren Ostmark. Hrsg. von Steffen Großpietsch. Norderstedt: Books on Demand, 2021. 141 S.
Mein Buch „Pogranicze. Przeszlosć bez historii...” [Grenzland. Vergangenheit ohne Geschichte...] soll im Frühjahr 2021 erscheinen. Ein Kapitel, „Der Sommer 1936“ behandelt den Inhalt dieses Reiseführers.

2
https://www.bod.de/buchshop/historische-wanderungen-durch-meseritz-9783751921664 [26.02.2021].

3
https://www.facebook.com/profile.php?id=100016467040250 [Zugang: 27 Februar 2021 Jahr]. Diese Fußnote bezieht sich auf die Diskussion nach dem Entfernen der kritischen Kommentare. Siehe: https://www.facebook.com/ marceli.tureczek.33/[Zugriff: 27.02.2021].

4
Vgl. Ryszard Patorski / Marceli Tureczek: Kronika siedemdziesięciolecia. T. 2: Trudny czas przemian – Miedzyrzecz w latach 1990-2015. [Die Chronik von sieben Jahrzehnten. T. 2: Die schwierige Zeit der Veränderungen – Meseritz 1990-2015]. Miedzyrzecz 2015, S. 97-101.

5
Dieser Text nach dem Redemanuskript entspricht inhaltlich dem
Abdruck im Heimatgruss 135, 1995, S. 8-9, die Formulierungen weichen teilweise ab.



Dr. Wolfgang Kessler

Unhistorische Wanderungen auf einem falschem Weg

Ein neues Buch über Meseritz und Umgebung1 weckt Interesse, zumal seit den beiden Bänden des von Ernst Hoffmann herausgegebenen Heimatbuchs „Stadt und Kreis Meseritz” (1972-1974)2 und dem Begleitband zur Ausstellung im Kreismuseum Wewelsburg von Wulf Brebeck und Andreas Ruppert (1985), der einzigen in Deutschland erschienenen wissenschaftlichen Kriterien genügenden Darstellung3 in Deutschland keine Darstellung zur Geschichte von Stadt und Kreis in Buchform erschienen ist. Sieht man genau hin, handelt es sich aber nur um einen – von einem im Meseritzer Kontext bislang unbekannten Steffen Großpietsch angeblich „völlig überarbeiteten” – Neudruck der 1936 vom „Landesfremdenverkehrsverband Mittlere Ostmark” in Frankfurt (Oder) als Tourismuswerbung herausgegebenen „Wanderungen um Meseritz und in Nachbargebieten der Kreise Schwerin, Bomst und Oststernberg”, laut Ausweis des damaligen Titelblatts „mit Beiträgen von Marie Matthias und anderen bearbeitet von Dr. R[udolf] Ehrhardt”.

Was ist nun „völlig überarbeitet”? Als Titelbild hat Großpietsch von der Ausgabe von 1936 das Aquarell der Kirche in Klastawe von Max Hellmann (was man aus dem Neudruck nicht erfährt) übernommen.
Im Geleitwort des Kreisleiters der NSDAP und – hier zum „Bürgermeister” degradierten – Oberbürgermeisters der Stadt Frankfurt (Oder), Martin Albrecht (1893-1952), dessen Namen er gestrichen hat, hat er den Halbsatz „in gleicher Richtung wirken Arbeitsdienst, HJ, BDM, wirken das Landjahr und der Landdienst der deutschen Studentenschaft” auf „wirken viele weitere Verbände, die Studentenschaft” verkürzt und den Hinweis auf die „Vorarbeiten Richard Frases und anderer Heimatforscher” ersatzlos gestrichen (S. [3]). Albrecht dankt „allen Helfern am Werk, vor allem Marie Matthias in Meseritz, unserem Verbandsgeschäftsführer und Herausgeber Dr. [Rudolf] Erhardt und unserem photographischen Mitarbeiter Hr. [in der Vorlage: Walter] Fricke”, deren Anteil am Buch (vgl. 1935, S. [5], vor dem „Inhalt”) Großpietsch verschweigt.

Den Text übernimmt Großpietsch fast unverändert, hat ihn allerdings mit unprofessionellem Layout unter Verzicht auf die Sperrung bei wesentlichen Eigennamen mit erfreulich wenigen Schreibfehlern (wie S. 31 die „gewö[l]bten Räume” im „Grenzlandhaus”) mit seinem Computer neu gesetzt. Die Schwarzweißfotos des Originals, deren Urheber er verschweigt, hat er in Farbfotos umgesetzt, die, durch das technische Verfahren weichgezeichnet, an Qualität verloren haben. Was ein „Orts- und Flurnamenverzeichnis” ohne Seitenangaben (S. 136-141) soll, sei dahingestellt.

Der Text ist – nach dem deutsch-polnischen Vertrag von 1934 und im Olympiajahr – in den entsprechenden Passagen eher vorsichtig antipolnisch. Er lässt keinen Zweifel an der „kerndeutschen” Stadt Meseritz (S. 29, 1936: S. 23). Archäologische Funde sollen germanische Kontinuität beweisen. Nur die Bildbeschriftung, nicht der Text zum „Hakenkreuz” von Königswalde (S. 135, 1936: S. 124) wurde zum „Kreuz” geändert. Dass Archäologie unter der Herrschaft des Nationalsozialismus eine extrem politisierte Wissenschaft gewesen ist 4, scheint dem „Herausgeber” unbekannt geblieben zu sein. Die wenigen historischen Daten (vor allem zur Stadt Meseritz) entsprechen dem damaligen Wissens- und Interpretationsstand (was sie nicht brauchbarer für den heutigen Leser macht).
Der Kreis Meseritz war 1936 kaum nach wissenschaftlichen Maßstäben historisch erforscht 5, an neueren ortsgeschichtlichen Monographien gab es nur das Heimatbuch für Brätz (1928) und die Stadtgeschichte von Meseritz von Paul Becker (1930). Die Veröffentlichungen von Bürgermeister Paul Hart über die Stadtentwicklung in den 1920er Jahren werden – wie Harts Leistung – verschwiegen, hatte die nationalsozialistische Regierung ihn doch 1933 aus dem Amt vertrieben. „Vieles” sei dagegen (S. 29, 1936: S. 23) „im Dritten Reiche geschaffen worden”, insbesondere das „Grenzlandhaus, geweiht [!] im Herbst 1936” mit Jugendherberge, „Jugendheimen für HJ und BDM” und Heimatmuseum.
Das zugehörige Foto (1936: S. 26) wurde als einziges nicht in den Neudruck übernommen. Man erfährt, dass die „Geschäftsräume der NSDAP und SA” „im ehemaligen Logengebäude” untergebracht waren (S. 30, 1936: S. 25), dafür nicht, wie die „Adolf-Hitler-Straße” vor 1933 geheißen hat.
Der damals in Bau befindliche, strengster Geheimhaltung unterliegende Ostwall wird – wie übrigens auch in den beiden Bänden des Heimatbuchs – nicht erwähnt, auch nicht die dafür durchgeführte Zwangsumsiedlung des Dorfes Kainscht, auch nicht das „polnische” Dorf Groß Dammer, dessen Germanisierung durch Einsiedlung man damals plante (vgl. Bericht der Stiftung »Dorf Limbach« über die Entstehung der Patensiedlung Leipzigs im Dorfe Großdammer-Limbach Kreis Meseritz. Leipzig [1938]).
Es sollte, wie ein ungenannter Rezensent in den „Grenzmärkischen Heimatblättern” (Jg. 13. 1937, S. 187) schrieb, „an der Erschließung unseres Grenzlandes für den Reiseverkehr mitwirken und helfen, bei Außenstehenden den Blick für dessen Eigenart und den Reiz zu öffnen”, die Landschaft, nicht die Geschichte popularisieren. Warum auf S. 63 die Warnung „Grenze beachten” im Unterschied zur Vorlage (S. 59) im Fettdruck hervorgehoben wird, sollte erklärt werden.

Wo ist „die deutsche Ostmark”, in deren Vergangenheit dieses Buch „uns förmlich [...] zurückkatapultiert”, wie der orthographisch defizitäre Umschlagtext verspricht? Der Begriff ist nicht nur durch den „Verein zur Förderung des Deutschtums in den Ostmarken” als politischer Kampfbegriff belastet, er ist zudem geographisch uneindeutig, meint hier wohl wie 1932 der „Grieben-Reiseführer” 220 „Ostmark” Ostbrandenburg und die Grenzmark Posen-Westpreußen.
Dass Großpietsch mit „Burgundern und Wandalen” wirbt, weist zumindest auf eine unreflektierte Rezeption des nationalsozialistischen Geschichtsbilds. Was er von „Ringwällen, Burgen und Schlössern, [...] den deutschen Siedlern, den Grenzschutzkämpfen, der unbarmherzigen Teilung des Landes nach dem Ersten Weltkrieg” ankündigt, hätte 1936 in jeder Broschüre des „Bundes Deutscher Osten” stehen können.
Die Redaktion ist nur Kosmetik, etwa wenn aus den „hohen Aufgaben, die das Dritte Reich” an die Meseritzer stellt (1936, S. 23) „die das Deutsche Reich an sie stellt” (S. 29) wird. Am Anfang derselben Seite hat Großpietsch offensichtlich das „Dritte Reich” übersehen. Die Umschreibung nationalsozialistisch besetzter Namen und Begriffe ist nichts als eine oberflächliche Entnazifizierung.

Wer soll die Zielgruppe sein? Wen interessieren „Flora und Fauna, wie sie unsere Ahnen noch zu sehen bekamen”? Und wer sind überhaupt „unsere Ahnen”? „Ahnenerbe” und „Ahnenforschung” standen im nationalsozialistischen Deutschland weit oben. Die „ehemaligen Einwohner der Grenzmark und Ostbrandenburgs”, die der Neudruck ansprechen soll, werden sich kaum noch für vor 85 Jahren begehbare Wanderwege interessieren, auch wenn es spannend sein könnte, welche dieser Wege heute noch existieren und wie die angesprochenen Orte heute heißen und was aus der Adolf-Hitler-Straße in Meseritz (S. 30/31) geworden ist.

„Geschichtsinteressierte” erwarten fundierte Informationen zur Geschichte von Orten und Menschen, keine Informationen über Wanderwege mit historischen Zusatzinformationen aus der Publizistik. „Heimatforscher” gibt es kaum noch, und welche „Heimat” tragen „Freunde des deutschen Ostens” [...] im Herzen? Und wer behauptet, mit diesem unveränderten und unkommentierten Buch „der Jugend von heute die Möglichkeit [zu bieten], unverfälschte Geschichte wahrzunehmen”, will sie mit einem nationalsozialistischen Geschichtsbild indoktrinieren – und verfälscht selbst seine angeblich so objektive Quelle, die 85 Jahre alte Tourismuswerbung.
Das Buch, dessen in Frakturschrift gedrucktes Original in der „Wielkopolska Biblioteka Cyfrowa” (der Großpolnischen Digitalen Bibliothek) problemfrei heruntergeladen werden kann, ist durchaus eine Quelle für ein einseitiges Geschichtsbild, das wie jede Form von Propaganda korrekte Fakten im Falschen anbietet und durch Auslassen indoktriniert. Das mag dumm oder dreist sein, könnte aber auch auf einen geschichtspolitischen Revisionismus schließen lassen, wie ihn der Heimatkreis Meseritz spätestens seit den 1990er Jahren überwunden hat.

Der „Herausgeber”, wohl eher der Abschreiber für den Neusatz in Antiquaschrift, beansprucht für den nicht von ihm verfassten Text das Copyright, hat dafür, ausgenommen den Text Max Bleschkes über die Holzkirchen (S. 87-100, 1936: S. 80-92), alle Autor(innen)namen bis auf die Erwähnung im Geleitwort konsequent getilgt.
Solche Anmaßung fremder geistiger Leistung, die Übernahme fremder Texte oder Abbildungen ohne Nennung der Urheber ent spricht den Merkmalen für ein Plagiat, verletzt aber vermutlich, das Geleitwort ausgenommen (Albrecht ist 1952 in Dortmund verstorben, sein Text wird damit erst 2023 gemeinfrei), nicht das Urheberrecht: Marie Albrecht ist kurz nach 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone verstorben6, auf Rudolf Erhardt, der 1927 in Hamburg promoviert worden ist, habe ich nach 1939 keinen Hinweis mehr feststellen können.

Die Veröffentlichungen zum „Meseritzer Land” teilen sich nach 1945 in Erinnerungsliteratur auf deutscher und, sich seit 1990 intensivierend, in historische Regionalforschung auf polnischer Seite. Großpietsch gehört mit seinem dreist als „völlig überarbeitet” angebotenem, tatsächlich fast unverändertem Neudruck eines deutschnational bis nationalsozialistisch indoktrinierenden Textes zu keiner der beiden Seiten.

Er bietet keineswegs „unverfälschte Geschichte“, sondern publiziert ein Werk, das Geschichte eher verfälscht, da es im Sinne der revisionistischen Publizistik in der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Ostforschung überholte Geschichtsauffassungen ohne jede Kritik reproduziert, für deren Überwindung der Heimatkreis Meseritz heute einsteht. Sie nützt nur den Ideologen auf deutscher wie polnischer Seite, die anstelle der vertrauensvollen gemeinsamen, auf die historische For schung gestützten Auseinandersetzung über gemeinsame Geschichte einer unterschiedlich gemeinsamen „Heimat“ alte Konfliktmuster wiederbeleben wollen.
Nur ein Dialog, der, auf die Ergebnisse der Geschichtswissenschaft gestützt, eingefahrene Bilder immer wieder hinter fragt, ist zukunftsfähig. Ein Europa der Regionen braucht regionale Geschichtsforschung, nicht die kritiklose Wiederholung in jeder Hinsicht veralteter Publizistik.

Selbst wenn er gut gemeint gewesen sein sollte, schadet dieser überflüssige Neudruck allen Bemühungen um Objektivierung auch der historischen Problemlagen. Er nützt niemandem, der sich für die Geschichte der Region und ihre Gegenwart engagiert. Sie schadet nur der Sache ihrer Geschichte im deutschen wie im polnischen Kontext, eine Geschichte, die es im gemeinsamen Europa schwer genug hat, auch weil das Regionale vielfach aus globalisierter Perspektive zu Unrecht verachtet wird.


1
Historische Wanderungen durch Meseritz und die angrenzenden Kreise der mittleren Ostmark, völlig überarbeitete Neuauflage des Buches „Wanderungen um Meseritz und den Nachbargebieten der Kreise Schwerin, Bomst und Oststernberg vom Landesfremdenverkehrsverband Mittlere Ostmark, Frankfurt (Oder), 1936 / hrsg.von Steffen Großpietsch . Norderstedt : BoD – Books on Demand, 2021. 143 S.

2
Stadt und Kreis Meseritz / [hrsg. vom Heimatkreis Meseritz. Zsstellung: Ernst Hoffmann]. Bd. 1-2. Wanne-Eickel [1972]-1974. – Dazu als Bd. 3 der Bildband (Herne 1979).

3
Deutsche im östlichen Mitteleuropa: Kultur - Vertreibung - Integration; Meseritz, Miedzyrzecz - Paderborn - Schwerin, Warthe, Skwierzyna; Einführung in die Ausstellung im Kreismuseum Wewelsburg / [Autoren: Wulff-Eberhard Brebeck ; Andreas Ruppert]. Paderborn, 1987 (Schriftenreihe des Kreismuseums Wewelsburg; 2).

4
Vgl. Graben für Germanien. Archäologie unterm Hakenkreuz. Stuttgart 2013.

5
Vgl. die für Meseritz maßgebliche, 1938 abgeschlossene Bibliograhpie von Andrzej Wojtkowski: Bibliografia historii Wielkopolski [Bibliographie zur Geschichte Großpolens]. Poznan 1937-1994.

6
Karl Hielscher: Mariens Huxt in Paradies. Eine Erinnerung an Marie Matthias und Emma Neumann. In: Heimatgruss 57, 1975, S. 8-9.