Von einem klugen und weitsichtigen Menschen - Max Bahr (1848-1930)
von Prof. Dr. Malgorzata Czabanska-Rosada

Leonhard v. Kalckreuth - 1930-2017 - Foto: Csaba Peter RakosczyDas deutsche Kulturerbe begleitet auf Schritt und Tritt die Bewohner des heutigen Westpolens. Überall findet man heute noch materielle Zeugen der deutschen Vergangenheit der Städte und Dörfer. Viele von ihnen befinden sich, tief verstaut, in Archiven und haben kaum eine Chance, an das Licht der Öffentlichkeit zu gelangen. Um dieses Kulturerbe zu bewahren und auch den heutigen Bewohnern bekannt zu machen, hat sich in Gorzow Wielkopolski (Landsberg an der Warthe) eine Gruppe von Wissenschaftlern die Wiederbelebung der Erinnerung an die deutschen Bürger zum Ziel gesetzt.

Im Rahmen eines polnisch-deutschen Projektes, finanziert aus Mitteln der Europaregion Viadrina, wurde die Initiative zur Übersetzung und Veröffentlichung der Lebenserinnerungen eines berühmten Sohnes dieser Stadt, Max Bahr, ergriffen. Max Bahr (1848-1930) war Gründer und Inhaber der europaweit bekannten Jutefabrik in Landsberg. Er war zugleich auch Stifter der Wohnsiedlungen und verschiedener Sozialeinrichtungen für seine Arbeiter, aber auch für die Landsberger.

Er war ein schöpferischer und aktiver Mensch, ausgerichtet auf die Tätigkeit, nicht nur zum eigenen Wohl und dem seiner Nächsten, sondern auch – und vielleicht vor allem – zum Nutzen seiner kleinen Heimat, des heutigen Gorzow Wielkopolski, bis 1945 Landsberg an der Warthe.
Als wohlhabender Bürger, der hauptsächlich dank seiner Begabung zu Reichtum und hoher gesellschaftlicher Anerkennung gelangt war, bemühte er sich auf verschiedenen Gebieten um die Verbesserung der menschlichen Existenz. Max Bahr – Homo Faber – also der Schaffende, ein Mensch der Arbeit, ist im Rahmen seiner Epoche des gewaltsamen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und geopolitischen Wandels und des Untergangs bisheriger Axiome im Leben des Individuums und der Nationen, eine durchaus inspirierende Gestalt.

Er ist ein Vertreter seiner Zeit, der jedoch auf vielen Gebieten die üblichen Grenzen und Muster seiner Nation wie auch der gesellschaftlichen Klasse, die er vertrat, überschritt. Er kam zur Welt im Jahr der Märzrevolution und der Bestrebungen deutscher Liberaler, denen er von seiner Jugendzeit an verbunden war.
Sein Leben verlief im territorialen Rahmen des Königreichs Preußen und nach gesellschaftlichen und politischen Reformen im in viele staatliche Organe geteilten Deutschland, dessen Ausdruck die Sitzungen der Frankfurter Nationalversammlung in den Jahren 1848-1849 waren. Der größte Teil seines Lebens fiel auf die Zeit des Deutschen Kaiserreichs der Jahre 1871-1918, als Preußen eine führende Rolle einnahm.

Er war 78 Jahre alt, als 1926 sein Buch „Eines deutschen Bürgers Arbeit in Wirtschaft und Politik: Lebens-Erinnerungen und -Erfahrungen aus den Jahren 1848 bis 1926“ erschien. Erst jetzt wurde es von mir ins Polnische übersetzt und im Januar 2020 in Gorzow Wielkopolski veröffentlicht. Das vor nahezu einhundert Jahren in einer anderen politischen Wirklichkeit und für einen anderen Leserkreis geschriebene Werk bedurfte tiefgründiger Kommentare, die dem heutigen Leser die Reise in die Welt Max Bahrs und seiner Epoche ermöglichen sollen.

Es ist kein einfaches Buch, es ist kein Buch zum amüsanten Lesen, obgleich viele seiner Passagen bei jedem Interesse wecken können. Es ist auf alle Fälle ein Dokument, das bestätigt, welch ein kluger und weitsichtiger Mensch Max Bahr war. Er war der Erste, der nach vorherigen Beratungen in seiner Jutefabrik Betriebsräte gründete, wobei diese erst 1920 in ganz Deutschland eingeführt wurden. Max Bahr war der Erste, der ein Kinderheim für Kinder seiner Arbeiterinnen errichtete und den Tagesablauf so organisieren ließ, dass die Säuglinge alle drei Stunden ihre Muttermilch bekommen konnten.
Er war derjenige, der betonte, daß jede Wohnung, die für seine Arbeiter gebaut wurde, einen kleinen Garten haben muß. Er war jener, der die körperliche Kraft durch Gymnastik hoch schätzte und deswegen eine Schwimmhalle für alle Bürger seiner Heimatstadt errichtete.

Mit allen seinen Entscheidungen war er seiner Zeit voraus. Max Bahr war hoch angesehen bei seinen Mitbürgern. Als 1945 in die Stadt Polen kamen, wußte niemand, wer Max Bahr war, obwohl alle gern in der von ihm errichteten Schwimmhalle gebadet haben. Deswegen war es so wichtig, die Erinnerung an diesen aufgeklärten und der Stadt ergebenen Menschen wieder zu beleben.

Leonhard v. Kalckreuth - 1930-2017 - Foto: Csaba Peter RakosczyDie Übersetzung der Erinnerungen von Max Bahr wurde in der Stadt sehr enthusiastisch begrüsst. Zur Premiere der Veröffentlichung ist die Familie Max Bahrs aus Deutschland angereist – sein Urenkel und Urururenkel. Die erste Auflage war innerhalb von 6 Tagen vergriffen und es müssen neue Exemplare bestellt werden.



„Max Bahr. Spolecznik, polityk i przedsiebiorca. Wspomnienia z lat 1848-1926“,
Übers. Malgorzata Czabanska-Rosada, Gorzow Wielkopolski 2020, 296 Seiten