Ein Vortrag von immerwährender Aktualität
Albrecht Fischer von Mollard (Fotos: A.F.v. M. - Archiv HGr.)


Dr. Malgorzata Czabanska-Rosada


„Friedhöfe der Kreise Meseritz und Birnbaum als Orte der Erinnerung und Versöhnung“


Auf Einladung des Vereins Freunde der Martin- Opitz-Bibliothek fand am 27. September 2018 in Herne eine Vortragsveranstaltung mit dem Thema „Friedhöfe der Kreise Meseritz und Birnbaum als Orte der Erinnerung und Versöhnung“ statt. Referentin des Abends war Dr. Malgorzata Czabanska-Rosada aus Posen/Poznan, unserem Heimatkreis eng verbunden und allen Lesern des Heimatgrußes bekannt als Korrespondentin für die Rubrik „Unsere alte Heimat - Polnische Nachrichten“ heute.

Zu Beginn ihres Vortrages befasste sie sich mit der Begräbniskultur in verschiedenen Epochen. Sie sprach über historische Friedhöfe als Orte der Erinnerung und des Abschiednehmens, der Besinnung und der Trauer und stellte fest, daß diese „von moralisch-gesellschaftlichen Ansprüchen sowie von Jenseitsvorstellungen und Glaubensauffassungen vergangener Zeiten“ berichten würden. Lt. einer Schätzung aus den 1990er Jahren gab es in Polen etwa 9.000 evangelische, calvinistische und jüdische Friedhöfe, von denen damals nur ein kleiner Prozentsatz gepflegt worden war.

Alle Ruhestätten in den ehemals von Deutschen bewohnten Regionen Polens haben eines gemeinsam: einen kompletten Austausch der Bevölkerung und damit einen Bruch in der „kulturellen Kontinuität“ sowie politische Umbrüche und Grenzverschiebungen als Folge des Zweiten Weltkriegs, der für alle nicht katholischen Begräbnisstätten eine tiefe Zäsur bildete. Durch die politischen, geografischen, ethnischen und sozialen Umwälzungen nach Kriegsende sind sie allesamt der jetzigen Bevölkerung fremd. In die ehemals deutschen Gebiete kam die aus den früheren polnischen Ostgebieten vertriebene Bevölkerung, und mit ihr deren Kultur und Tradition.

Mit Flucht und Vertreibung der Deutschen verschwand die bis dahin „ortseigene“ Kultur und Tradition. Für die „neuen“ Bewohner aus dem Osten Polens war der neue Lebensraum jedoch fremd, fremd blieben ihnen auch die vorhandenen Friedhöfe.
Deshalb nutzte die zwangsweise umgesiedelte Bevölkerung die verlassenen Grabfelder nicht; sie dienten eher als Ort der Baustoffgewinnung, keinesfalls jedoch als Begräbnisstätte.
Die neuen Einwohner haben ihre eigenen Friedhöfe angelegt, und die bestehenden, für sie fremden Friedhöfe gerieten in Vergessenheit. Die Grabmale wurden abgetragen, bisweilen wandelte man Grabfelder auch in Parkanlagen um oder gab sie als Bauflächen frei, jedenfalls verloren sie ihren ursprünglichen, nämlich sakralen Charakter und blieben im Bewusstsein der Bevölkerung fremd, ungenutzt und überflüssig.

Der offiziellen Denkmalliste der Woiwodschaft Wielkopolska zufolge gibt es auf dem Gebiet Großpolens 125 historische evangelische Friedhöfe, allesamt ungenutzt bzw. aufgelassen, die unter Denkmalschutz stehen.
Eine entsprechende Statistik der Woiwodschaft Lubuski spricht von 37 evangelischen Friedhöfen. Diese Angaben sind jedoch unvollständig und umfassen lediglich die denkmalgeschützten, d.h. die staatlich geschützten Gräberfelder. Der weitaus größte Teil unterliegt nicht dem Denkmalschutz und ist dementsprechend nicht aufgelistet. Darunter befinden sich auch die ehemaligen Friedhöfe in den Kreisen Meseritz / Miedzyrzecz und Birnbaum/Miedzychod, die die Referentin anschließend vorstellte.

Sie begann diesen Teil mit einem Bekenntnis, für das sie sich seit Jahrzehnten ebenso ein-setzt wie ihr Bruder Tomasz: Im Kreis der christlichen Kulturen sei der Friedhof der Ort der ewigen Ruhe, eine geweihte Stätte, dem als solche Hochachtung und Ehrfurcht entgegen gebracht werden solle; er dürfe in keinem Fall ein Ort für gezielte Zerstörung und Schändung sein.
Den Verstorbenen gehöre die Achtung und das Andenken. Alte evangelische Friedhöfe in Polen seien innerhalb weniger Jahrzehnte wie vom Erdboden verschluckt, von wild wucherndem Gebüsch überdeckt in Vergessenheit geraten und häufig genug zu einer Müllhalde verkommen. Inzwischen sind jedoch Initiativen entstanden, deren Ziel es ist, den sakralen Charakter dieser Plätze wiederherzustellen. Motive für derartige Aktivitäten könnten Gewissensbisse sein, aber auch eine Art moralische Verantwortung für die Attraktivität des eigenen Wohnortes.
Die Vortragende, die bekanntlich an einer ganzen Reihe solcher Projekte beteiligt war, stellte aus ihrer eigenen Erfahrung fest, daß solche Vorhaben immer „von unten“, von einfachen Menschen ausgingen, denen die Umgestaltung eines verwahrlosten, zerstörten Friedhofes eine Herzensangelegenheit war, nie waren politische, kommerzielle oder mediale Motive im Spiel.

Eine Begegnung zwischen Dr. Malgorzata Czabanska-Rosada und ihrem Bruder Tomasz, dem Vorsitzenden des Vereins POMOST aus Posen/ Poznan, mit einer kleinen Gruppe ehemaliger Bewohner der Stadt Tirschtiegel/Trzciel führte zur Idee der „Aufräumung“ des einstigen evangelischen Friedhofs mehr als ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende.
Auf großen Enthusiasmus stieß der Gedanke bei den Mitgliedern des ortsansässigen Vereins „Freunde von Tirschtiegel“ und auch die kommunalen Behörden hatten den Willen zur Zusammenarbeit und Unterstützung.

Im Juni 2001 konnte das Projekt mit einem ökumenischen Gottesdienst in Tirschtiegel unter Teilnahme zahlreicher ehemaliger und heutiger Bewohner feierlich gestartet werden. In seiner Predigt sagte der aus Potsdam angereiste ev. Pfarrer: „Als Christen können wir unter uns um Vergebung bitten und uns gegenseitig vergeben. So bitten wir Euch heute: Vergebt uns! Und wir sagen Euch: Wir vergeben Euch von Herzen!“. Dazu wurde von den ehemaligen deutschen Bewohnern eine Kerze der Versöhnung entzündet.
Im Sommer des gleichen Jahres begann man mit den Aufräumungsarbeiten, an denen sich erneut Menschen beider Nationalitäten beteiligten. Sie beseitigten so gut wie möglich Wildwuchs und Gestrüpp und konnten vereinzelt noch unzerstört vorhandene Grabsteine wieder aufrichten.

2002 fand unter Teilnahme von Polen und Deutschen die Wiedereinweihung des Friedhofs mit der Enthüllung eines von den ehemaligen Bewohnern Tirschtiegels gestifteten Gedenksteins statt, im Jahr darauf wurde auf dem Gelände ein in Naßlettel/Lutol Mokry gezimmertes großes Holzkreuz errichtet und geweiht. Erste Schritte zu einer dauerhaften Aussöhnung waren getan.

Diesem ersten regionalen Zeugnis der deutsch-polnischen Versöhnung und Vergebung sollten sehr bald weitere folgen. Bereits im September 2003 wurde auf dem evangelischen Kirchenfriedhof in Hochwalde/Wysoka ein Gedenkstein zur Erinnerung an die deutschen Bewohner Während des Gottesdienstes kam es zu einer ergreifenden Szene: Eine aus den polnischen Ostgebieten stammende Bewohnerin hatte 1945 in dem ihr zugewiesenen, zuvor von Deutschen bewohnten Haus eine aus dem Jahre 1909 stammende Konfirmationsurkunde gefunden und aufbewahrt, die sie nun dem anwesenden Neffen der inzwischen verstorbenen ehemaligen Konfirmandin als Geste der aufrichtigen Versöhnung und Vergebung überreichte. ** (siehe Anmerkungen ganz unten in der Seite)



Im Jahre 2004 weihte man in Neutomischel auf dem Gelände des ehemaligen, inzwischen zu einem Stadtpark umgestalteten Friedhofs einen Gedenkstein zur Erinnerung an die Geschichte dieses Ortes ein.
In den folgenden Jahren wurden weitere evangelische Friedhöfe aufgeräumt, hergerichtet, Gedenksteine gesetzt und Kreuze als christliches Symbol des Friedens und der Versöhnung errichtet: in Rogsen/Rogoziniec 2005, in Betsche/Pszczew 2006, in Rybojadel/Rybojady 2007.




In Birnbaum/Miedzychod konnte 2013 auf dem Gelände des ehemaligen evangelischen Friedhofs im Ortsteil Lindenstadt ein Denkmal zur Erinnerung an die ehemaligen deutschen Bewohner geweiht werden.

In zwei weiteren Ortschaften hatte das Gedenken an ehemalige deutsche Bewohner einen anderen Charakter. In diesen Fällen ging es nicht um die Herrichtung eines verwahrlosten Friedhofs und die damit verbundene Aufstellung eines Gedenksteins. Hier handelte es sich um ein christliches Begräbnis von aus Massengräbern exhumierten Kriegsopfern.
In Dürrlettel/Lutol Suchy waren 40 Einwohner des Dorfes und Wehrmachtsangehörige im Februar 1945 von einrückenden Rotarmisten erschossen worden, unter ihnen auch 2 Krankenschwestern, die in einem als Notlazarett eingerichteten Saal verwundete Soldaten versorgt hatten. Alle Opfer wurden in einem Massengrab nahe der Kirche verscharrt. Die heutigen Bewohner des Ortes hörten bei ihrer Ankunft 1945 von dem Massaker und legten später insbesondere zu Weihnachten und Allerheiligen dort Blumen nieder und zündeten Kerzen an.
Erst nachdem sie 2012 den Verein POMOST informiert hatten und dieser zunächst sondiert und später die sterblichen Überreste exhumiert hatte, erfuhren sie die ganze Wahrheit über diese schreckliche Tragödie.
Im Jahre 2013 wurde auf dem Friedhof des Ortes auf Initiative ehemaliger deutscher und der heutigen Bewohner unter großer Anteilnahme der Bevölkerung in einer feierlichen Zeremonie ein Gedenkstein geweiht.

In Brätz/Brojce hatten 2011/2012 die Einwohner im Rahmen des Projektes „Evangelischer Friedhof in Brätz – Vergangenheit und Erinnerung“ das Gelände entmüllt, aufgeräumt und ein hohes Betonkreuz aufgestellt. Diese Initiative ging von den heutigen Einwohnern aus, obgleich niemand auf dem Friedhof Verwandte hat. An seiner Hauptallee stellten sie einen Findling mit einer eingemeißelten Lutherrose auf, ein deutlicher Hinweis auf die frühere Verwendung dieses Ortes.
Auf demselben Gelände entdeckten Archäologen von POMOST im Jahre 2013 ein Massengrab und exhumierten 60 Kriegsopfer, darunter auch deutsche Dorfbewohner. In einem ökumenischen Trauergottesdienst wurden ihre sterblichen Überreste unter großer Anteilnahme der Dorfbewohner und ehemaliger deutscher Einwohner beigesetzt. Um das offene Grab bildeten Polen und Deutsche gemeinsam einen Kreis und reichten sich die Hände als Zeichen aufrichtiger Versöhnung und Vergebung.




Am Ende ihrer Ausführungen meinte Dr. Czabanska-Rosada, daß die Errichtung von Erinnerungs- und Gedenkorten auf ehemaligen deutschen Friedhöfen stets mit der Überwindung von Ängsten und Vorurteilen einhergegangen sei. Die Arbeit an der Versöhnung sei ein schwieriger und mühevoller Prozess, der oft von extremen Emotionen begleitet sei, bevor das beabsichtigte Ziel erreicht werde.
Angesichts dessen, was sich während der gemeinsamen Arbeiten auf den genannten Friedhöfen ereignet hätte, könne man behaupten, daß diese zu wahren Orten der Versöhnung zwischen Polen und Deutschen wurden. Die Besucher der Vortragsveranstaltung dankten der Referentin aus Polen mit lang anhaltendem Applaus.


** Berichtigungen/Anmerkungen

Aufmerksamen Lesern ist nach Erscheinen dieses Artikels im Dezember 2018 (HGr. 227) nicht entgangen, dass der Beitrag bezüglich des Gedenksteins in Hochwalde/Wysoka zwei unrichtige Angaben enthält:

Nach Aussage einer aus Hochwalde stammenden Heimatfreundin waren die Bewohner des Dorfes „von jeher katholisch“; demzufolge ist der erwähnte Kirchfriedhof, d.h. die an der Kirche befindliche Gräberanlage, auf der heute der Gedenkstein in Hochwalde steht, der katholische Friedhof des Ortes.

In dem Artikel wird von einer Urkunde aus dem Jahre 1909 gesprochen, die am Tage der Weihe des Gedenksteins im Jahre 2003 als Zeichen der Versöhnung und Vergebung überreicht wurde. Ein Heimatfreund aus Perleberg hat darauf hingewiesen, dass es sich bei dieser Urkunde damals nicht um einen Konfirmationsbrief handelte, wie er in der evangelischen Kirche verwendet wird, sondern um eine Urkunde, mit der die Erstkommunion eines Mädchens katholischer Konfession dokumentiert worden war.

Alle Heimatfreunde aus Hochwalde mögen die Fehler in dem Bericht nachsehen.
Albrecht Fischer von Mollard, April 2019