100 Jahre danach – eine Reise nach Meseritz
In memoriam Herbert Andersch, Lehrer
* 1903, Berlin | † 1987, Gerolstein, Eifel
von Lothar J.M. Andersch (Hamburg, im Sommer des Jahres 2017)


IPoln. Textm Arbeitszimmer des Vaters hing zeitlebens eine Radierung in goldbronzefarbenem Rahmen. Sie zeigt einen langgestreckten zweistöckigen Bau im Stil des Barock, flankiert von zwei gedrungenen Türmen, in der Dachmitte eine Galerie mit Balustrade. Hinter dem Gebäude ragen links die stattlichen Türme einer Kirche in den Himmel, davor ein wilder Garten, windschiefe Lattenzäune, Bretterstege, die in ein Gewässer hineinragen, auf dem Enten schwimmen. Vor einem mächtigen Baum, nur angedeutet, sind zwei Gestalten zu erkennen, die sich auf das Wasser zubewegen. Unter dem Bild ist kleiner ein prächtiges Tor gezeichnet, das den Schriftzug des Künstlers unterteilt, rechts der Name Eduard Binder, links der Titel Seminar Paradies (Prov. Posen).

Heute weiß ich, daß sich hinter dem wohlklingenden Namen ein ehemaliges Zisterzienserkloster in der Neumark verbirgt. Nach 1836 war ein Lehrerseminar in die Abtei eingezogen, an deren Südseite der Bach Packlitz vorbeifließt. Das Gebäude beherbergt jetzt ein Priesterseminar, im Dorf Goscikowo, unweit von Miedzyrzecz, das Meseritz hieß, als mein Vater in die Königliche Präparandenanstalt eintrat – vor 100 Jahren!


Ich habe mitunter versucht, ihn mir mit seinen 14 Jahren vorzustellen, wie er sich im Frühjahr 1917 von Berlin in die Neumark aufmachte. Bei Recherchen im Netz stieß ich auf eine alte Postkartenansicht der Präparandenanstalt in der Schwiebuser Straße, preußische Architektur aus den 1870er Jahren. Im Nachlaß des Vaters entdeckte ich zudem zwei alte Fotografien. Die eine zeigt sieben junge Burschen.
Auf der Kehrseite steht in gestochener Sütterlin-Schrift ein Pennälerspruch, Zum teuren Andenken an die Zeit auf Bude Hollunder (an die Privatmänner und Grossstümper), dazu die Jahreszahl 1918/19 und sechs Namen, Klassenkameraden des Präparanden Herbert Andersch.

Auf der anderen sind er und sechs junge Kerle mit Studentenmützen zusehen, hinten ist mit Tinte notiert: Zur freundlichen Erinnerung an die Pension Hollunder 1919, dazu die Unterschriften der sechs Mitschüler. Seiner Zeit betrieb die Steuerberaterwitwe Franziska Hollunder in Meseritz, Lindenstraße 1, an der Nordseite des Marktplatzes, eine Pension.

Die Straße heißt jetzt ul. Lipowa und das alte Backsteinhaus mit der Nummer 1, das in Miedzyrzecz hinter dem rynek steht, scheint jenes Gebäude zu sein, in dem damals Präparanden der Anstalt unterkamen. Den Hinweis verdanke ich Herrn Wojciech Derwich, der im Museum der Stadt für mich recherchiert hat. Ich denke an den Schulweg von früher, und sehe auch meinen Vater vor mir, wie er und die Kameraden sich aufmachen in der Früh in der Lindenstraße, über den Marktplatz, vorbei am schmucken Rathaus, wie sie von der Hohen Straße nach rechts in die Kirchstraße einbiegen, zur Linken Sankt Johannis, zur Rechten die Post, wie sie die Schwiebuser Straße hinunterlaufen, rechter Hand das Landratsamt, über die Packlitz, bis sie Höhe Vollmer Straße ihr Ziel erreichen.
Gut möglich, daß sie mit knurrendem Magen marschierten, es waren nämlich bittere Jahre, ein verlorener Krieg und Grenzkämpfe in der Provinz Posen, die laut Versailler Vertrag schon bald dem polnischen Staat zugesprochen würde, mit Ausnahme einzelner westlicher Kreise wie Meseritz.

Die Anstalt sollte ein paar Jahre später aufgelöst werden. Am 19. Februar 1924 gibt der Landrat des Kreises Meseritz bekannt, daß „der Rest des Inventars Freitag, den 22. d. Monats nachmittags, 2 1/2 Uhr im Anstaltsgebäude Schwiebuser Str. 5 öffentlich meistbietend gegen Barzahlung versteigert [wird]“.

Der preußische Schulbau indessen steht noch, in der ulica Swierczewskiego, Ecke ul. Chopina/ul. Likowa; unverwüstlich dient er mit neuer Hausnummer 40 heute als Wohnhaus.
Im Geh. Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz fiel mir die Anfrage meines Großvaters an das Provinzial-Schulkollegium Berlin vom 19. Juli 1920 in die Hände.
„Mein Sohn Herbert hat am 11. u. 12. März d.J. auf der Präparanden-Anstalt in Meseritz die Seminarreifeprüfung abgelegt. Da die Meseritzer Schüler in einem Nebenlehrgang im Lehrerseminar Paradies untergebracht werden sollen, erlaube ich mir die bescheidene Anfrage, wann dieser Nebenlehrgang eröffnet wird. Hochachtungsvoll, Emil Andersch, Feuerwehrhauptmann, Berlin W.57, Schwerinstr. 9.“

Die Sache hat geklappt, im Spätsommer desselben Jahres wurde Herbert Andersch, geb. am 31. März 1903 in Berlin, unter der laufenden Nummer 1366 eingeschrieben. Seminar Paradies – hinten auf der Radierung entzifferte ich ein verblichenes Etikett: Eduard Binder Maler – Radierer Berlin Neu-Tempelhof Dreibundstraße 43 Tel. Südring 3382 : Postscheckkt. Bln. 27368.
Den Künstler konnte ich unter ebendieser Anschrift im Adreßbuch Berlin 1924 finden, vermutlich das Jahr, in dem das Bild entstand, vielleicht ein Erinnerungsstück, das der Vater selbst in Auftrag gab, oder ein Geschenk der Eltern zur bestandenen Lehrerprüfung an Ostern 1923.

Nur einmal noch scheint der Vater zurückgekehrt zu sein in die Neumark. Ich fand ein kleines Buch mit braunem Einband. Kloster Paradies – ein Kulturzentrum an der deutschen Ostgrenze von Wilhelm Doetsch, 1926, Verlag von Carl Haug, Meseritz (Grenzmark), darin, in geschwungener Schrift, folgende Widmung: „Meinem lieben Andersch zum Andenken an den Verfasser Prorektor Doetsch, Paradies. Ostern 1926“.
Später wohl nicht mehr, Grenzen verhinderten das. Allerdings gibt es einen Brief, den der Vater vom 23. August 1952 vom Katholikentag im zerstörten Berlin an die Mutter schreibt: „Treffen der ehemaligen ‚Paradieser‘ – bekannte Gesichter und viel zu erzählen. Von meinen Klassenkameraden traf ich nur ganze 4.“ Man ahnt, daß hier der Krieg für Schicksale verantwortlich zeichnet. Ihn, den Berliner, hatte es zwanzig Jahre zuvor schon ins Rheinland verschlagen, in die Eifel, auf der Suche nach fester Arbeit.

Mir, dem ältesten Sohn, hört man in Hamburg daher den Rheinländer auch noch an. In diesen Augusttagen habe ich, Lehrer wie er, mich nun also auf den Weg gemacht, 100 Jahre später, um mit Meseritz und Paradies die Orte zu sehen, wo der Vater seine Laufbahn begann und eine glückliche Jugend verlebt haben muß.
Nach bestandener Prüfung hatte er im protestantischen Berlin weniger Glück. Als Katholik sollte er keine Stelle finden. Schulen waren Konfessionsschulen, katholische rar. Kriegsteilnehmer hatten Vorrang bei der Einstellung, aus der ehemaligen Provinz Posen kamen zusätzliche Bewerber. In seiner Personal-Karte für Lehrer steht unter Angestelltenverhältnis Fremdberuf. Als Aushilfe beim Statistischen Reichsamt oder als Kontorist bei der Deutschen Buchgemeinschaft versuchte er sich über Wasser zu halten, meist jedoch war er arbeitslos. 1926 fand er schließlich Anstellung als Erziehungsgehilfe im Lindenhof in Berlin- Lichtenberg, bis die Nazis das städtische Heim im Juni 1933 auflösten.

Die Zeit steht nicht still. Grenzzäune gibt es im gemeinsamen Europa nicht mehr. Die Reise nach Meseritz auf den Spuren des Vaters hat mich in die Gegenwart geführt, nach Miedzyrzecz, in eine Stadt mit neuzeitlichem Gesicht, die postmoderner Uniformierung trotzt. Denn für den, der sehen will, bleibt Geschichtliches klar erkennbar.
Mehr nur als Marktplatz und Rathaus erstrahlen in altem Glanz. «Deutsche und andere Bewohner von Meseritz» heißt eine Ausstellung im Museum. Es wird die wechselvolle Geschichte der Menschen erzählt, die seit über tausend Jahren an Obra und Packlitz leben, in dem Flußwinkel, der der Stadt den Namen gab. Die sehenswerte Schau dokumentiert die Geschehnisse, verwischt keine Spuren, zeigt, wie Leiter Andrzej Kirmiel betont, wie es war, und animiert zu vorurteilsloser Begegnung mit Geschichte.

Poln. TextMeine Reise nach Meseritz war eine solche Begegnung – mit einer Kulturlandschaft östlich der Oder, wo sich Vergangenes bewahrt hat. Die Umrisse preußischer Landschaft, die ich von alten Aufnahmen kannte, sind durchaus noch erkennbar. Unverkennbar auch Paradies, so wie es der Berliner Maler in den 1920er Jahren gesehen hat. Seit dem Besuch in Polen ist das Bild aus dem Arbeitszimmer des Vaters mit eigenem Erleben verknüpft. Paradies ist nicht ferne Glückseligkeit, es ist diesseits, greifbar nah, und in den Gärten von Paradyz kann man himmlisch wandeln.