Vor 70 Jahren – ein Rückblick
Helmut Kahl


Am 12. Januar 1945 startete die Rote Armee aus den Brückenköpfen des großen Weichselbogens ihre Offensive. Die Deutsche Wehrmacht hielt der massiven Überlegenheit nicht stand und so konnten die russischen Armeen innerhalb kurzer Zeit bis zur Oder vorstoßen.
In den Köpfen der meisten russischen Soldaten bestimmten Hass und der Drang nach Vergeltung ihre Taten, denn ca. „20 Millionen Sowjetbürger“ waren umgekommen, seitdem die deutsche Armee in Russland einmarschiert war. Zusätzlich angestachelt von Stalins Worten: „Zerstampft das faschistische Tier in seiner Höhle!“ und weiteren propagandistischen Aufrufen waren die russischen Soldaten zu grausamsten Taten bereit.
Bis zu diesem Zeitpunkt und danach wurde es der Zivilbevölkerung nicht gestattet, ihre Wohnorte rechtzeitig zu verlassen, um sich zu retten. Durch die sich nähernde Front war es nicht verwunderlich, daß sich die deutsche Bevölkerung zur Massenflucht voller Panik und Entsetzen, zur Flucht unter schrecklichen Bedingungen, entschied.
Die herrschende Kälte war für die Flüchtlinge eine Katastrophe, denn der Weg nach Westen sollte sehr beschwerlich werden sowohl für Pferdewagen als auch für die Menschen. Sie mußten sich zum Teil durch Schnee, der den Pferden bis zum Bauch reichte, hindurch schleppen. Viele Säuglinge erfroren auf der Flucht, die Mütter konnten sie nicht einmal begraben, sondern mußten sie am Wegrand liegen lassen.
Die deutschen Fronttruppen wurden vollständig zerschlagen und die wenigen Eingreif-Divisionen in den Strudel des feindlichen Durchbruchs hineingerissen, so daß sich nur schwache Kräfte durchzuschlagen vermochten. Dadurch wurde es unmöglich, die vorbereiteten Stellungen mit zurückgehenden Divisionen zu besetzen. Diese Divisionen gab es einfach nicht mehr. Am 17. Januar erreichten die russischen Panzerspitzen den Ostteil des Warthelandes.

Panzerspitzen an der Reichsgrenze bei Tirschtiegel
In den späten Abendstunden des 25. Januar 1945 schlug auch für meine Familie in Tirschtiegel die Schicksalstunde. Der Gutsbesitzer, Hauptmann Gerd Fischer von Mollard, meldete sich bei meinem Großvater Hermann Schulz, der als Kutscher auf dem Gut tätig war, telefonisch reichlich spät mit den Worten; „Schulz, spannen Sie die Pferde an und hauen Sie ab, der Russe ist da!“. Die Familien der Gutsarbeiter hatten bereits in den vorangegangenen Tagen luftbereifte Pferdewagen vorbereitet und mit dem notwendigsten Hausrat beladen. Die jeweiligen Familien wurden alarmiert.
Ich ging mit zum Gutshof, um die Pferde zu holen. Vor den Wagen wurden 3 Pferde gespannt und 2 weitere hinten als Reserve angebunden. In der Eile hatte man vergessen, Futter für die Pferde aufzuladen. Schnell liefen wir zum Speicher und beluden einen weiteren Wagen mit Hafersäcken. Aus Richtung der Altstadt hatte sich inzwischen das Feuer mit Panzergranaten verstärkt. Am Horizont blitzte es von den Granatabschüssen und man konnte bereits Feuerschein erkennen.
Der Treck unter Führung des Gutsverwalters Wilhelm Liebig zog in die kalte Winternacht durch den hohen Schnee auf der Straße nach Meseritz. Das Ziel war, Küstrin zu erreichen und über die Oder zu gelangen.
Während der Fahrt hörten wir noch immer das Rufen und Bitten der Frauen mit Kindern, die zu Fuß unterwegs waren und mitgenommen werden wollten. Unsere Wagen waren mit mehreren Familien besetzt, insgesamt 28 Personen, so daß kein Platz mehr vorhanden gewesen wäre. In den Morgenstunden erreichten wir den Marktplatz in Meseritz, wo wir warme Getränke und Essen erhielten. Hier kamen mehrmals Meseritzer an unseren Wagen und fragten, wo wir herkämen. Als sie hörten, daß wir aus Tirschtiegel sind und dort bereits geschossen wurde, liefen sie in Panik nach Hause.



Unser Treck bestand aus mehreren Pferdewagen und benutzte vorwiegend Nebenstraßen, um nicht von den Fahrzeugen der Deutschen Wehrmacht überrollt zu werden, die auf den Hauptstraßen nahezu ununterbrochen Richtung Westen rollten.

Unser Treck fuhr ab Meseritz die Strecke: Pieske – Tempel – Grochow – Schermeisel – Zielenzig - Drossen – Küstrin, teilweise begleitet von weiteren Pferdewagen aus Tirschtiegel. An der Oderbrücke in Küstrin gab es einen längeren Halt. Hier war offensichtlich eine Auffanglinie eingerichtet, denn Angehörige der Feldgendarmerie (Kettenhunde genannt) und Angehörige der Waffen-SS kontrollierten jedes Fahrzeug. Wir hatten auf unserem Wagen einen Volkssturmmann aus Tirschtiegel versteckt, der jedoch bei der Kontrolle nicht entdeckt wurde. Als wir die Oder hinter uns ließen, wähnten wir uns in Sicherheit. Insgesamt waren wir über 3 Wochen unterwegs, bis wir uns am 18. Februar 1945 in Perleberg, der Kreisstadt der Westprignitz, zur Einweisung anmelden konnten. Die Prignitz war als Auffanggebiet (Evakuierungsraum) für den Kreis Meseritz festgelegt worden.

Perleberg - ein Volk auf der Flucht!
Den ganzen Februar und März 1945 ist in Perleberg ein immer wieder erschütterndes Bild zu sehen:
Die langen Wagenreihen in den Straßen der Stadt. Ein Zug ohne Männer! Frauen, Kinder und Greise führen die Zügel. Gegen die Unbilden der Witterung haben sie auf den Wagen Schutzdächer gezimmert.
Die Wagenkolonnen stehen oft stundenlang in den Straßen oder dicht gedrängt auf dem Schulhof. Die abgekämpften Pferde lassen müde die Köpfe hängen, teilnahmslos sitzen die nun Heimatlosen auf und zwischen ihrem letzten Hab und Gut. Sie sind dankbar, wenn man sie anspricht, wenn man nach dem Woher und den Erlebnissen unterwegs fragt. Der ganze Jammer dieser Vertriebenen, Entwurzelten klingt aus den Schilderungen doppelt, wenn die Worte trotz allem ohne Klagen sind. Man spricht ihnen Mut zu, redet von baldiger Rückkehr und ist doch zutiefst überzeugt, daß ein Jahrtausend deutscher Geschichte hier vor die Hunde ging.
Die Nachkommen unzähligen deutscher Bauern, Gewerbetreibender, Geistesschaffender, die Jahrhunderte hindurch nach Osten gezogen waren müssen nun in wilder Flucht alles verlassen. Sie werden ihre schöne, mit soviel Fleiß und Liebe kostbar gemachte Heimat mit den schönen deutschen Städten, den sauberen Dörfern und den erschlossenen an Segen so reichen Feldern, wohl nie wiedersehen.
Stundenlang stehen die langen Wagenzüge der Heimatlosen in Perleberg, Tag für Tag neue, bis sie für die vielen Suchenden registriert sind. Die Menschen bekommen ihre Schüssel warme Suppe, die kleinen Kinder ihr Fläschchen Milch, das ihnen von hilfsbereiten Händen gereicht wird, bis die müden Pferde das Bündelchen Heu gefressen haben, bis neue Marschorder den Strom weiter in Bewegung setzt.
Es sind heimatlos gemachte Menschen, ins Unglück gestürzt durch eine Handvoll politischer Abenteurer und Dilettanten, die das ganze deutsche Volk, uns alle, verantwortungslos mit in ihren eigenen Untergang hineingerissen haben. Viel Elend, keine Feder vermag es zu beschreiben. Am 01. Februar 1945 trifft der erste Flüchtlingszug am Bahnhof in Perleberg ein. Einwohner helfen beim Ausladen. Das Elend beginnt! Die Flüchtlinge müssen wieder weiter, da der Zug falsch geleitet wurde.

Flüchtlingsbetreuung in Perleberg
In Perleberg beginnt nun die Arbeit der Flüchtlingsbetreuung. Am 9. Februar 1945 treffen die ersten Wagen ein. Müde, mit gesenkten Köpfen, stehen die armen Pferde, frierend und stumm hocken die eingemummten Menschen auf ihren Wagen auf verschneitem, durchnäßtem Stroh, Frauen, Kinder und Greise zwischen ihrem letzten armseligen Hab und Gut, herausgerissen aus Wohlhabenheit und Geborgenheit. Die Flüchtlingszentrale, -meldestelle, Registrier- und Suchstelle, wird in der Schule eingerichtet. Der Unterricht wird eingestellt, da alle Räume benötigt werden.
Der Flüchtlingsstrom wächst täglich, in der Stadt sind lange Wagenkolonnen. Der Schulhof gleicht nachts einer Wagenburg. Morgens ist alles verschneit. Kinder und Fohlen werden geboren und sterben. In den Schulräumen liegen Hunderte eng gedrängt auf Stroh. Alle werden verpflegt, registriert und weitergeleitet.

In Perleberg bleiben die Kreise Samter, Kolmar, Czarnikau, Birnbaum, Stadt und Kreis Meseritz, später auch die Stadt Küstrin. Die Versprengten kommen ratlos zur Suchstelle, wo sich die Kartei für alle Durchreisenden befindet. Das Erschütterndste in diesen Tagen ist der endlose Strom der Flüchtlinge, Verwundete und Kranke aus den aufgelösten Lazaretten Kyritz und Friesack, Amputierte, mühselig auf einem Bein, hohlwangig, fiebernd, schleppen sich zur Stadt hinein, brechen zusammen, bleiben apathisch liegen oder schleppen sich mit dem Flüchtlingsstrom wieder zur Stadt hinaus, westwärts. So geht der letzte Tag unserer Freiheit zu Ende. Das Gewitter des Krieges zieht auf und wird bald über uns sein. Ähnliche und andere Zeitbilder dieser Tage, wo sich die Ereignisse von Stunde zu Stunde überschlagen, gab es überall in dem sonst so geruhsamen und friedlichen Perleberg.

Unser Dank geht an die damaligen Einwohner des Kreises Westprignitz, die den Flüchtlingen in dieser schweren Zeit Wohnung und Brot gaben und damit das Überleben ermöglichten. Noch viele Jahre nach dem Krieg hofften wir auf eine Rückkehr in die Heimat, jedoch vergebens.


Diese Zeilen sollen für die jüngere Generation eine Mahnung sein, sich für den Frieden einzusetzen. Die Meldeunterlagen der Flüchtlinge von 1945 im Kreis Westprignitz sollen sich im Landeshauptarchiv Potsdam befinden. Eine diesbezügliche Prüfung wird im März 2015 erfolgen.

Quelle: Perleberg 1945 von Albert Hoppe