TEIL 1
Betrachtungen des früheren Eigentümers
von Gut Obergörzig

Joachim v. Kalckreuth (1902-1970), verfaßt 1965
„Die wirtschaftliche Situation unserer Güter“


Gutshaus MuchocinIm Jahre 1924 hatte der Bruder meines Großvaters mütterlicherseits, Leonhard v. K., mich adoptiert. Als er im Herbst 1927 starb, sollte ich das Erbe der Güter Obergörzig und Samst antreten.

Das Erbe
Eigentlich wäre meine Mutter zuerst die Erbin gewesen. Sie bot mir an, die Güter formal als Adoptivsohn zu erben, ihr jedoch die Bewirtschaftung zu überlassen. Es muß für sie eine große Enttäuschung gewesen sein, daß ich dazu nicht bereit war. Ich hatte angeboten, auf mein Erbrecht als Adoptivsohn zu verzichten und sie erben zu lassen. Oder: selbst zu erben und auch die alleinige Verantwortung zu tragen, natürlich ihr dabei ehrenhafte Lebensbedingungen und entsprechende materielle Leistungen in Obergörzig zu gewähren. Das war gewiß die einzig richtige Lösung.
Meine Kurziger Großmutter Ottonie hieß sie gut und meine Mutter akzeptierte sie. Es gelang mir damals auch zugleich, eine Erblösung für Muchocin im Einvernehmen mit allen interessierten Familienmitgliedern festzulegen und auf diese Weise praktisch mit dem Tage der Übernahme Obergörzigs auch voll für das Wohl und Wehe von Muchocin – das ich formal erst 1937 aus politischen Gründen als Schenkung meiner Mutter an mich grundbuchlich übertragen ließ – verantwortlich zu sein.
Nicht gelungen ist mir, die vereinbarten Leistungen an meine Mutter in den Jahren 1931 bis 1936 in voller finanzieller Höhe zu erfüllen. Ich persönlich habe dafür während dieser Jahre keinen Pfennig aus Obergörzig für mich entnommen. Was die Regelung der Erbansprüche meiner Schwestern betrifft, kann ich rückblickend feststellen, daß sie für die Schwestern günstig war und daß ich meine Pflichten dabei erfüllt habe.
Bereits anläßlich des Empfangs nach der Beisetzung von Onkel Leo trat der Pächter an mich heran und sagte, seine Obergörziger Pachtzeit liefe am 30.6.1928 ab, er sei zu alt um noch weiter zu arbeiten, wolle also abgeben und könne mir nur raten, das Gut in eigene Regie zu nehmen.

Mein wirtschaftlicher Beginn
Damals schien die deutsche Wirtschaft in Ordnung zu sein, die Preise für landwirtschaftliche wie auch forstliche Produkte waren normal und die Übernahme schien durchaus geraten. Doch niemand, der ohne langjährige Erfahrung ist, ahnt, wieviel man in ein großes Gut investieren muß, das 40 Jahre hindurch verpachtet war und vom Pächter dementsprechend einseitig genutzt wurde. Eine 1902 erbaute Kartoffelbrennerei war die einzige moderne Einrichtung. Sämtliche Gebäude waren stark vernachlässigt. Die Dächer undicht, die Arbeiterwohnungen nicht ausreichend und es gab auch keinerlei neuzeitliche Anlagen, etwa um mit ihrer Hilfe die im Orte verfügbare Elektrizität – an die das Rittergut nicht angeschlossen war – auszunützen.
So kam es, daß ein vorher errechnetes Hypothekendarlehen, das die Finanzmittel für die Übernahme durch mich bereitstellen sollte, nicht ausreichte; und als das erkennbar geworden war, setzte die große Wirtschaftskrise fast schlagartig ein.
In letzter Stunde reagierte der Staat jedoch, indem er helfend für Betriebe, die sich festgefahren hatten, ein Sicherungsverfahren anordnete. Ich nahm diese Chance sofort wahr. In ruhiger Abwicklung wurde eine Umwandlung der laufenden Verbindlichkeiten in langfristige Tilgungsschulden herbeigeführt. Ich mußte ein relativ sehr kleines Areal für Siedlungszwecke hergeben und konnte sämtliche Ansprüche der Gläubiger ungekürzt befriedigen. Doch bei allem Kalkulieren und sorgfältigem Wirtschaften war und blieb das Betriebsergebnis weiterhin mager. Alle Experten erklärten, das ließe sich nicht ändern. Doch diese Meinung war unberechtigt.
In Kurzig, auf dem Nachbarbesitz, war nach dem Tod meiner Großmutter (1932) durch den klugen Berliner Rechtsanwalt, meinen Vetter Dr. Wolf v. Gersdorff, eine mir bis dahin unbekannte Beratungsorganisation zu eigenständiger Bewirtschaftung eingesetzt worden. Ich lernte den in Kurzig leitenden Beamten kennen und hatte sofort den Eindruck, daß diese Berater neue Wege beschritten und – wie sie selber versicherten – dadurch viel erfolgreicher waren.

Die Motorisierung hilft
Ihr Rezept scheint (heute) so einfach gewesen zu sein. Damals war es völlig neu. Sie hatten sich die Tatsache nutzbar gemacht, daß gummibereifte Traktoren praktisch für jegliche Arbeit verwendbar sind und daß sie, als Zugkraft für gummibereifte Anhängerwagen eingesetzt, das Vielfache von Pferden an Transportarbeit leisten.
Man konnte Menschen zeitsparend an ihre Arbeitsplätze auf den Feldern schaffen und konnte sogar ohne große Mühe zusätzliche Arbeitskräfte aus der Stadt in Zeiten, in denen mehr Arbeit anfiel als ein Gutsbetrieb normalerweise mit eigenen Leuten schaffen kann, herbeiholen. Dadurch war man in der Lage, den Hackfruchtbau in der Felderwirtschaft enorm zu steigern. Es gab dazu bereits erstaunlich zuverlässige moderne Erntemaschinen und es war möglich, einwandfreie, staatlich anerkannte Saatkartoffeln aus eigenem Anbau sowohl in großen Mengen im Herbst zu ernten, wie auch – maschinell sortiert – in kurzer saisonbedingter Frühjahrszeit waggonweise an die Käufer zu verschicken. Ich entschloß mich, dieser Organisation die Obergörziger Landwirtschaft anzuvertrauen. Sämtliche Nachbarn glaubten abraten zu müssen und hielten mich für ziemlich verrückt. Aber da die Bedingungen für diese Neuerung in Obergörzig ideal waren, konnte man die Erfolge nicht übersehen.

Um die Umstellung auf diese Gummibereifung mit allem was dazu gehört, durchzuführen, mußte ich noch einmal die Forst – außer Etat – in Anspruch nehmen. Bereits zwei Jahre später konnte ich die Forst völlig entlasten. Sie brauchte nun erst mal gar keinen Überschuß mehr zu erwirtschaften und ich konnte ihre Bewirtschaftung so einrichten, daß überhaupt nur minderwertiges Holz geschlagen wurde und der – vorher allerdings zeitweise strapazierte – Wald wieder Reserven bildete.

Bodenbeschaffenheit und Fruchtfolgen
Der Obergörziger Boden ist zwar Sandboden, aber von der feinkörnigen Sorte, die fruchtbar ist, auf der jedenfalls Roggen und Kartoffeln stets gute Erträge bringen. Durch den intensiven Hackfruchtbau wurden die Felder völlig unkrautfrei und ich erlebte gleichmäßige Ernten, die erheblich höher als früher lagen. Die natürlich auch vorhandenen wenigen unfruchtbaren Felder der Außenschläge und der Samster Hänge spielten eine untergeordnete Rolle und wurden teilweise aufgeforstet. Die verfügbaren Überschüsse aus der Landwirtschaft waren alljährlich hoch, reichten für Zinsendienste wie auch für den Unterhalt meiner Mutter und erlaubten endlich, das Gut aus dem laufenden Etat auf allen Gebieten (Wohnungen, Dächer, Viehställe, Inventare, Silobau) ganz wesentlich zu verbessern.

Gute Mitarbeiter
Die dortige Arbeiterbevölkerung, ein Gemisch von Märkern und Polen, war insgesamt weder so ausgeglichen, noch so leicht zu führen wie die in Muchocin. Da alle Begabten jedoch als Traktorfahrer oder in ähnlichen Funktionen eingesetzt wurden und hohe Zusatzlöhne verdienten, gab es mit zunehmender Intensität auch bessere Arbeitsleistungen.

Hervorragend tüchtig war der Oberinspektor, aber die Tatsache, daß „sein“ Betrieb (leistungsstärkster Landwirtschaftsbetrieb im Kr. Meseritz) die besten Resultate bzw. im Kriege Ablieferungsleistungen erzielte und die damit verbundene Gunst der nationalsozialistischen Kreisbauernschaftsbehörde machten ihn zu deren Paradepferd und entzogen ihm mein menschliches Vertrauen.
Ein Juwel war der alte Brennereiverwalter und ein vorbildlicher, sehr sympathischer Mitarbeiter Förster Böhme. Ihn hatte ich in Obergörzig schon vorgefunden, er war seit 1925 dort als Hilfsförster tätig, übernahm auf meine Anregung für Jahre als Zweitamt die Arbeiten eines Rechnungsführers für die Landwirtschaft und wurde schließlich – motorisiert – Alleinförster für alle Revierteile.
Er ist dieser Aufgabe zu meiner größten Zufriedenheit gerecht geworden und hat seinerseits die volle Verantwortung und damit Weite seiner Stellung dankbar empfunden. Er hat die Tochter des alten Brenners zur Frau genommen. Jetzt lebt er als „Forstingenieur“ betitelt aber als kurzfristig angestellter Mann – nicht Beamter – in der Sowjetzone und steht mit mir in gutem Kontakt. Er wird 1966 pensioniert und ich hoffe, ihn im Westen zu sehen.

Das Ende 1945, Rückschau — Ergebnis
Als sich die gesamte Einwohnerschaft Obergörzigs im Januar 1945 auf die Flucht begab, wurde all das, was wir geschaffen hatten, in wenigen Stunden für immer zerstört.
Ich hing persönlich nicht so sehr an Obergörzig wie an Muchocin, was meine wirkliche Heimat war. Aber die Verantwortung für die Obergörziger Besitzung hatte sich seit Inthronisierung der neuen Regie zu einer Quelle ständiger Freude entwickelt.

Im Gegensatz zu Muchocin, das man unter heutigen westeuropäischen Bedingungen bestimmt nicht rentabel führen könnte, wären die Obergörziger Güter, wenn sie etwa in Niedersachsen lägen, mit dem zu allen Jahreszeiten so leicht bewirtschaftbaren Sandboden, den riesengroßen (je Schlag 40 ha), Feldern und ihrer fast ganz ebenen Lage mit Maschinen und mit einem Minimum an Menschenkraft ideal zu bearbeiten und würde die Arbeit immer lohnen.
Bereits im Jahre 1938 war erkennbar, daß Obergörzig durch die Gummi-Mechanisierung einen totalen Wandel erlebt hatte. Weil um das Dorf nebst Gutshof und Herrenhaus ein Park- bzw. Wald- und Rasengürtel lag, der in 1 – 1,5 km Breite die Felder vom Betriebssitz trennte, lebte dieses Gut früher in einer Art von Dornröschenschlaf.
Man benötigte täglich etwa 1,5 bis 2 Stunden für produktive Arbeit verlorener Zeit, wenn man „zu Fuß“ mit Pferden oder gar mit 80 Zugochsen (wie zu Zeiten des Pächters) auf die Felder ziehen mußte.
In der Erinnerung sei alles großartiger als es wirklich gewesen ist, sagt man. Das halte ich auch durchaus für wahr. Ich allerdings hatte – meine Erinnerung klammert diese Zeit nicht aus – seit 1931 Sorgen. Als am 16.12.1931 mein zweiter Sohn geboren wurde, waren die Zeiten sogar bitterernst. Und als es – trotz Umschuldung – nicht gelang, die Obergörziger Ergebnisse in wirklich aktive Bilanzen zu wandeln, befand ich mich noch 1934 in ziemlicher Ratlosigkeit.
Heute weiß ich zwar, daß alles unwiederbringlich verloren ist, aber auch, daß meine administrativen Handlungen richtig waren. Wenn wir, was ich damals 1941 – 44 kaum geglaubt aber doch noch gehofft hatte, aus dem Kriege geschwächt, aber noch mit leidlich heiler Haut herausgekommen wären, sollten dem Gut aus seinen Reserven an Holzbestand wie auch Einrichtung Kräfte zur Verfügung stehen, die es möglich gemacht hätten, die von mir erwartete hohe Vermögens- Abgabe oder -Last zu tragen. Eine andere Methode, den Besitz durch vorbeugende Schritte abzusichern, hat es, glaube ich, nicht gegeben.