Ein Meseritzer wurde Präsident der Reichsbank:
Rudolf Havenstein 1857 – 1923

Ein Text von Ulrich Radomski und Dr. Klaus Scheel

Büste Rudolf HavensteinWer von uns seine Kindheit in Meseritz verbracht hat, kennt vermutlich die Havensteinstraße, die von der Bahnhofstraße in Richtung Wasserturm zur Bismarckstraße führte. Aber ehrlich: Wer wußte schon, wer Havenstein war? Im Schul- oder Religionsunterricht spielte sein Name keine Rolle. Und doch verbirgt sich hinter dem Namen ein in Meseritz Geborener, der es bis zum höchsten Finanzbeamten des Deutschen Reiches gebracht hat und dieses Amt fast fünfzehn Jahre bis zu seinem Tod im Inflationsjahr 1923 innehatte.

Kindheit in Meseritz und Stargard

Rudolf Emil Albert Havenstein wurde am 10. März 1857in Meseritz geboren, und zwar im Hause der alteingesessenen Meseritzer Familie Gumpert in der Bismarckstraße 12, heute ul. Straszica. Sein Vater Robert Havenstein (1825 – 1905) war Jurist. Rudolf besuchte in Meseritz die Volksschule und die ersten Klassen des Gymnasiums und zog dann mit seinen Eltern ins pommersche Stargard um. Dorthin war sein Vater als Landgerichtsdirektor versetzt worden. Schon im Jahre 1873 – er war erst 16 Jahre alt – bestand er an dem renommierten Gymnasium in Stargard mit guten Noten das Abitur. Seine letzte Zeit als Schüler in Stargard war getrübt durch den Tod seiner Mutter Bertha geb. Braut, die ein Jahr vor seinem Abitur starb.

Studium in Heidelberg und Berlin
Noch im Jahr seines Abiturs 1873 begann er das Studium der Rechtswissenschaft an der Ruprecht- Karls-Universität in Heidelberg. Student im idyllischen Heidelberg – das muß für junge Menschen damals ein Traum gewesen sein! Man kann sich vorstellen, wie in den Kneipen und Weinstuben beim Kommers und bei fröhlichen Gelagen getrunken und gesungen wurde. Es waren vermutlich die damals schon beliebten Lieder wie „Ein Heller und ein Batzen“, „Gaudeamus igitur“,„O alte Burschenherrlichkeit“ oder Lieder mit Texten von Schiller wie „Jetzt kommen die lustigen Tage“ und „Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd aufs Pferd“ oder von Theodor Körner „Lützows wilde, verwegene Jagd“. Etwas trockener und ernster dürften dann die letzten Semester seines Studium nach dem Wechsel an die Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin (heute Humboldt-Universität) gewesen sein. Immerhin machte Rudolf schon nach drei Jahren sein Jurareferendarexamen.

Erste Jahre im preußischen Staatsdienst

Im August 1876 trat Havenstein als Referendar in den preußischen Staatsdienst. Damit begann seine beispiellose Juristenkarriere. Im Dezember 1881 wurde er Gerichtsassessor und im Justizdienst im Bezirk des Oberlandesgerichts Stettin eingesetzt, sechs Jahre später Amtsrichter in der Kreisstadt Arnswalde, einer alten aufstrebenden Stadt in der Neumark. In dieser Zeit begründete Rudolf auch sein privates Glück: Er heiratete im Jahre 1889 die um neun Jahre jüngere Maria geb. von Meyer. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor: der Sohn Leutold und die Töchter Annemarie und Gerda.

Aufstieg zum höchsten Finanzbeamten

Im Jahre 1890 wurde Havenstein als Regierungsrat an das Preußische Ministerium der Finanzen in Berlin versetzt und im Laufe von sechs Jahre zum Geheimen Oberfinanzrat befördert. Das Neumärkische und das Posener Land sollten bald wieder in seinem Leben eine Rolle spielen: Havenstein wurde 1896 zum Kommissar des Deutschen Reiches bei der Ansiedlungskommission für Westpreußen und Posen bestellt. Damit war der gebürtige Meseritzer wieder für seine Heimat tätig. Schon nach vier Jahren erwartete ihn in Berlin eine neue Aufgabe: Am 31. März 1900 wurde er zum Präsidenten der Königlich- Preußischen Seehandlung (Preußische Staatsbank) ernannt. Diese Einrichtung war von König Friedrich II. von Preußen im Jahre 1772 unter dem Namen „Seehandlungssocietät“ gegründet, hatte anfangs reine Reedereiaufgaben. Das See- und Handelsinstitut entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer wichtigen Finanzeinnahmequelle des preußischen Staates, dem es jährlich 3 bis 4 Millionen Mark zuführte (so z. B. im Haushaltsjahr 1890). Bald wurde aus der „Seehandlungssocietät“ die „Preußische Staatsbank (Seehandlung)“. Diese Bank leitete Havenstein von März 1900 bis Ende 1907. Dann erwartete ihn die letzte und größte Aufgabe seiner erfolgreichen Berufskarriere. Am 6. Januar 1908 erhielt er das Amt des Präsidenten der Reichsbank. Er war damit zum höchsten Finanzbeamten des Reiches aufgestiegen, dem die Anrede “Exzellenz“ gebührte. Eine weitere Ehrung erfuhr er, als er im Jahre 1913 Mitglied des Preußischen Herrenhauses wurde, der Ersten Kammer des Preußischen Landtages.

Im ErsteReichsbank Berlin (um 1900)n Weltkrieg
Der Erste Weltkrieg 1914 bis 1918 stellte Havenstein als Reichsbankpräsident vor schwierige Finanzierungsaufgaben. Schon vor dem Krieg hatte er große Verdienste um die Finanzierung der deutschen Volkswirtschaft. Nach dessen Ausbruch war er maßgeblich an der Einführung der neun Kriegsanleihen beteiligt, die 98,7 Milliarden Mark erbrachten. Rudolf Havenstein hat zwei wichtige Reden dazu gehalten: eine zur 7. Kriegsanleihe am 20. September 1917 in Frankfurt am Main und eine andere am 11. März 1918 in der Universität München. Auch an der Einführung des – heute selbstverständlichen – bargeldlosen Zahlungsverkehrs hatte er maßgeblichen Anteil. Zur Eröffnung der Zentralstelle für den bargeldlosen Zahlungsverkehr hielt er am 2. Mai 1918 die Festrede. Der Krieg, der sich zu Ungunsten des Deutschen Reiches entwickelte, ist an der Familie Havenstein nicht ohne Opfer vorübergegangen. Sein Sohn Leutold fiel am 14. August 1916. Die Stadt Meseritz kondolierte dem Vater mit Schreiben vom 24. August 1916: „Zu dem schweren Verlust, der Euer Exzellenz mit dem Tode des auf dem Felde der Ehre gefallenen Sohnes getroffen hat, erlaubt sich die Stadtgemeinde Meseritz ehrerbietigst ihr innigstes Beileid auszusprechen.“
Den Eltern blieben nur noch die Töchter Annemarie und Gerda. Kurz zuvor, nämlich am 4. November 1915, hatte die Stadtverordneten-Versammlung von Meseritz auf Antrag des Magistrats beschlossen, „… den Präsidenten des Reichsbankdirektoriums Seine Exzellenz Rudolph Havenstein zum Ehrenbürger seiner Vaterstadt Meseritz zu ernennen.“ Havenstein bedankte sich persönlich mit Schreiben vom 2. November 1916 an Bürgermeister Eugen Schlüter (Bürgermeister in Meseritz von 1911 bis 1921): „…beehre ich mich auf das gütige Schreiben vom 28. v. M. ergebenst zu erwidern, daß es mir eine besondere Ehre und Freude sein wird, den Ehrenbürgerbrief meiner Vaterstadt aus Ihren und des Herrn Stadtverordneten- Vorstehers Matthias‘ Händen entgegenzunehmen. Da ich an den Werktagen über meine Zeit nicht mit Sicherheit zu verfügen vermag, gestatte ich mir, den verehrten Herren hierfür Sonntag den 12. d. M. mittags 2 Uhr vorzuschlagen und die Bitte hinzuzufügen, mir und meiner Frau die Freude zu machen, dann bei uns zu frühstücken. Ich möchte aber diesen Brief nicht abgehen lassen, ohne dem Magistrat und den Stadtverordneten von Meseritz noch meinen sehr herzlichen Dank für die gütige Teilnahme, die sie mir bei dem Tode meines Sohnes bezeigt haben, auszusprechen und ihnen zu sagen, daß sie mir damit wohlgetan haben…“
Der Kaiser verlieh Havenstein für seine Verdienste im Kriege hohe Auszeichnungen: Vom Eisernen Kreuz bis zum Roten Adlerorden 1. Klasse mit Eichenlaub. Im Juli 1918 verlieh ihm die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften die Goldene Leibnizmedaille.

Die Inflation – Havensteins schwierigste Amtszeit
Der Erste Weltkrieg war zu Ende. Das Deutsche Reich war der Verlierer. Die Revolution vom 9. November 1918 führte zum Rücktritt Kaiser Wilhelms II. und zum Ausrufen der Republik. Wie in anderen kriegführenden Ländern auch, kam es in Deutschland in den ersten Nachkriegsjahren bis 1923 zu einer galoppierenden Entwertung des Geldes und einem ungeheuren, nie dagewesenen Preisanstieg. In dieser Inflation entwickelte sich die Währung in Deutschland in großen Sprüngen. Aus 1 Mark im Jahre 1913 wurden 45 Mark im Januar 1922, 4.200 Mark im Januar 1923, über 1 Million Mark im August 1923, 6 Milliarden Mark im Oktober 1923 und 1 Billion Mark auf dem Höhepunkt der Inflation am 15. November 1923. Entsprechend stiegen die Kosten für 1 US-Dollar von 4 Mark vor der Inflation auf 4 Billionen Mark auf deren Höhepunkt. Die meisten Menschen in Deutschland verstanden die Welt nicht mehr. Familienväter wußten nicht mehr, wie sie ihre Kinder ernähren sollten. Alle Preise stiegen mit immer größerer Beschleunigung. Aus den Kosten von wenigen Pfennigen für ein Paar Schnürsenkel wurden mehrere tausend Mark. Bettler konnten zu Milliardären, Reiche schnell arm werden. Arbeiter, die ihren Lohn von einer Woche bisher in einer schmalen Lohntüte nach Hause brachten, mußten ihn nun in einem Rucksack nach Hause schleppen. Oft verdoppelten sich die Preise in Stunden. Morgens hatte man noch Geld für 1 Pfund Suppenfleisch, abends reichte es nicht mehr zu einem Brot.

Das Ende
Rudolf Havenstein, dessen Verdienste um die Erhaltung einer geordneten Finanzwirtschaft in den Jahren vor dem Krieg und während des Krieges unbestritten waren, blieb auch nach dem Kriege als Reichsbankpräsident im Amt. Als indes die geradlinigen Schemata und die Grenzen überkommener wirtschaftlichen Regeln zerrissen und vorher Verbundenes auseinander sprengten, als widerstreitende Interessen von Banken, von Finanzwissenschaftlern und von Politikern verschiedener Parteien nicht mehr miteinander in Einklang gebracht werden konnten, war es für einen preußischen Beamten vom alten Schlage tiefbegründeter Tradition gerader und ehrlicher Arbeit ungeheuer schwer, wenn nicht unmöglich, sich der Wendung dieser Dinge anzupassen.
Im Sommer 1923 wurde in der Berliner Börsenzeitung mehrfach schon Dr. Hjalmar Schacht als der Nachfolger von Rudolf Havenstein als Reichsbankpräsident genannt. Die Regierung Gustav Stresemann (Deutschnationale Volkspartei) hatte unmittelbar nach ihrem Regierungsantritt am 13. August 1923 versucht, Havenstein zum Rücktritt zu bewegen. Dieser aber lehnte ab. Reichskanzler Stresemann mußte sich mit dieser Entscheidung Havensteins abfinden. Die Reichsbank war seit Mai 1922 in ihren Entschlüssen unabhängig; so konnte sich der Zentralausschuß der Reichsbank in Berlin mit einem Beschluß vom 25. August 1923 demonstrativ hinter den Präsidenten stellen.
Doch die Weichen wurden hinter den Kulissen gestellt. Großindustrielle und Bankiers wie Hugo Stinnes, Fritz Thyssen, Albert Vögler und andere berieten, wie sie die ins Wanken geratene bürgerliche Ordnung retten könnten. Reichskanzler Stresemann suchte einen Ausweg aus der „Katastrophen- und Erfüllungspolitik“ (Reparationszahlungen an die Siegermächte). Am wichtigsten war eine Stabilisierung der Mark. Die Inflation mußte ein Ende haben. Dazu sollten die deutschen Gold- und Devisenbestände beitragen. In einer Zwischenlösung wurde die Rentenmark eingeführt. Zur Durchführung weiterer Projekte mit Hilfe der Großbanken, wie Deutsche Bank, Dresdner Bank, und mit Einsatz von USA-Kapital wurde Dr. Hjalmar Schacht am 12. November 1923 zum Reichswährungskommissar ernannt.

Havenstein war in jenen Wochen des Höhepunkts der Inflation zunehmender Kritik und öffentlicher Diskussion ausgesetzt. Diese Kritik war selten sachlich, sondern meist voller Häme, wie die Bemerkung des britischen Botschafters in Berlin, Viscount D’Abernon, zeigt, der Rathenau, Wirth und Havenstein zu den Inflationisten zählte, die in seinen Augen „allesamt Schwachköpfe“ waren, weil sie die Inflation als Produkt der ungünstigen Zahlungsbilanz und nicht der Druckerpresse interpretierten. So kam es „in Deutschland nur über vier Leichen zur Stabilisierung… Es waren dies Rathenau, Havenstein, Helfferich und Stinnes“. Dem hier gegebenen Konflikt, zusammen mit den immer wieder aufgenommenen Versuchen, auch den Erfordernissen der Geschichte unserer Heimat Wirtschaft gerecht zu werden, war „die intellektuelle und willensmäßige Struktur dieses menschlich aufs höchste zu schätzenden altpreußischen Beamten nicht gewachsen“ (D’Abernon: „Deutschland und der Youngplan…“ in „Berliner Börsenzeitung“ vom 20. November 1923, „Zeit“ von November 1923).
Während eines dringend notwendigen kurzen Erholungsurlaubs im November 1923 überfiel Havenstein eine Grippe, so daß er schon krank nach Hause zurückkehrte. Er starb am 20. November 1923 an einem Herzschlag in seiner Berliner Dienstwohnung. Der plötzliche Tod von Rudolf Havenstein ergab eine Wende. Das Direktorium und der Zentralausschuß der Reichsbank bekämpften die Kandidatur von Schacht als Reichsbankpräsident erbittert und zogen Karl Helfferich von der Deutschen Bank vor. In der neuen Reichsregierung unter Wilhelm Marx setzten sich jedoch die Kräfte für eine Entscheidung zugunsten von Schacht als neuen Reichsbankpräsidenten durch, der dieses Amt am 8. Januar 1924 antrat.

Grabstätte Fam. HavensteinDie Beisetzung
Die öffentliche Trauerfeier für Rudolf Havenstein fand im Lichthof der Halle des Reichsbankgebäudes am 23. November 1923 statt. Reichskanzler Dr. Stresemann, Finanzminister Dr. Luther, General von Berendt vom Wehrkreiskommando waren persönlich gekommen, Industrie, Banken, Handel und Handwerk waren durch Abordnungen vertreten. Vor der Reichsbank im Eingang der Jägerstraße sammelte sich eine Menschenmenge. Die Belegschaft der Reichsbank hatte die Treppen und Galerien des Lichthofes gefüllt. Der Sarg wurde nach dem St. Annen-Friedhof Berlin-Dahlem überführt. Die Beisetzung fand im engsten Familienkreis statt. Die Grabstätte besteht noch heute. Deutschland, die Neumark, Meseritz, Arnswalde, Stargard, Berlin und andere Stätten seines Wirkens trauerten. Der in Meseritz Geborene blieb unvergessen. Straßen in Berlin-Lankwitz und Meseritz erhielten seinen Namen. Die Bank- und Finanzgeschichte ehrte Dr. h. c. mult. Rudolf Havenstein.